Richtig reisen

Warum in die Ferne schweifen?

04:03 Minuten
Die Sihouette eines Radfahrers im Gespensterwald in Nienhagen. Im Hintergrund geht die Sonne über der Ostsee unter.
Schon Kinder haben heute oft mehr Flugkilometer hinter sich als Christoph Kolumbus Seemeilen, beobachtet Christian Unverzagt. Umgekehrt ist der Nahraum für viele zur terra incognita geworden. © Imago / Photothek / Florian Gärtner
Überlegungen von Christian Unverzagt · 30.07.2019
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Malediven, Mauritius, Mount Everest: Im Zeitalter des Massentourismus ist uns das Fremde oft vertrauter als das, was vor unserer Haustür liegt. Christian Unverzagt plädiert dafür, den Nahraum wiederzuentdecken - der Umwelt, aber auch uns selbst zuliebe.
Im alten China gab es die Auffassung, dass ein Künstler 10.000 Meilen gewandert sein müsse. Die Wanderungen sollten ihm nicht zur Freilichtmalerei oder zur Sammlung von Skizzen dienen, sondern zur Bildung seiner Persönlichkeit. Sie war das, worauf es ankam. In ihr gründete, was immer er dann tat und schuf.
Dass der Mensch, auch und gerade der sesshafte, zumindest einmal im Leben für längere Zeit wandern müsse, galt früher auch in Europa. Noch heute ist die Wanderschaft in einigen Handwerken Brauch. Auch unseren Dichtern und Denkern war die Idee vertraut, dass man in der Fremde gewesen sein müsse, um zu sich zu kommen.
Als ich vor rund dreißig Jahren in den Fernen Osten aufbrach, gab es dort noch das Ganz-weit-weg. Höchstens einmal im Jahr habe ich von einer Provinzhauptstadt aus ein umständlich vermitteltes Ferngespräch nach Deutschland geführt.
Heute haben Kinder oft schon mehr Flugkilometer hinter sich als Christoph Kolumbus seinerzeit Seemeilen. Per Smartphone werden die Reiseeindrücke nach Hause oder in beliebige andere Winkel der Welt übertragen. Auch ich habe damals im Flugzeug gesessen. Dann folgten Tage in Hardseater-Abteilen von Zügen oder in Überlandbussen ohne Stoßdämpfer. Von einer entlegenen Herberge aus ging es zu Fuß weiter, manchmal nach stundenlangem Marsch mit Stammesangehörigen in entlegene Bergdörfer ohne Strom und ohne Fernsehen. An Pfählen hingen animistische Zauber. Dort war Anderswo.

Heute liegt Terra incognita vor unserer Haustür

Diese Orte verschwinden mit ihrer Zugänglichkeit. Daran haben wir Grenzgänger und Wanderer zwischen den Kulturen unseren traurigen Anteil. Die Ausstattung der Orte, ihrer Bewohner und ihrer Besucher gleichen sich weltweit einander an. Während der Geschäfts-, der Waren- und der Urlaubsreiseverkehr zum Wohl der Wachstumswirtschaft mehr und mehr Erdöl verbrennt, schrumpft Terra incognita zusammen.
Doch zugleich wächst auch wieder ein unbekanntes Land. Nicht in der Ferne, sondern nebenan; dort, wo uns das Naheliegende fremd geworden ist. Dort gehe ich heute wandern. Ich lebe in einem Stadtteil, der früher ein Dorf war. Einst zogen hier Pferdefuhrwerke durch. Dann kamen die Autos. Ich habe es noch erlebt, als sie mit Gegenverkehr durch die Straßen fuhren. Das ist heute nicht mehr möglich. Die zu beiden Seiten der Straße parkenden Autos lassen für die fahrenden, immer dickeren Modelle nur noch eine schmale Gasse frei. Dort, wo es etwas breiter ist, stehen Baustellenfahrzeuge, um weiter "nachzuverdichten". So stockt und stottert der Verkehr, und es wird gehupt wie früher nur in Rom oder Istanbul.
Zum Glück ist der Wald nicht weit weg. Manchmal muss aber auch ich für längere Zeit raus aus der Stadt. Urlaub! Möglichst weit weg, aber nicht geografisch, sondern möglichst weit weg von Verkehr, Lärm, Energie"bedarf" und digitalen Geräten. Weit weg von dem, was sich überall auf der Welt gleicht. Dazu bedarf es keiner Flugkilometer. Im Gegenteil.

Die ganze Welt im Livestream

Mark, ein alter Weggefährte, legt immer noch große Entfernungen zurück. Neulich traf er auf einer livegestreamten Konferenz in Rio – oder war es die in Kapstadt? – unsere alte Freundin Jana aus Kopenhagen, die ich vor Ewigkeiten beim Trampen durch Europa kennengelernt habe. Im Foyer haben sie in einem Stehgrüppchen kurz geplaudert und sich dann für demnächst mal wieder zum Skypen verabredet.
Danach war Mark zum Urlaub auf den Malediven. "Traumhaft!", schwärmt er. Der Süßwasserverbrauch sei zwar nicht wirklich "nachhaltig" gewesen. Aber dafür, sagt er augenzwinkernd, fahre er zuhause die Töchter seiner Freundin immer zu den Freitagsdemos.
Mir kommen als Kommentar das Schluchzen der Nachtigallen und das Lachen der Spechte in den Sinn, denen wir bei unserer letzten Radtour gelauscht haben.
Wieder wird gehupt. Mark erklärt, dass das selbstfahrende Auto mit Elektroantrieb diese ganze "absurde und anachronistische Verkehrssituation", wie er es nennt, lösen werde. "Oder man darf nur noch mit dem Fahrrad in den Stadtteil", sage ich. "Und schwere Sachen werden wieder mit dem Pferdefuhrwerk transportiert."
Er schaute mich fragend an. Ob ich das ernst meine?

Christian Unverzagt ist Kulturphilosoph und Ostasienkundler. Paris, Berlin und Amsterdam waren seine wichtigsten Stationen in Europa, bevor er für Jahre auf Wanderschaft nach Asien ging. Heute lebt er als freier Schriftsteller, Maler und Lehrer der sanften Kampfkunst Taijiquan wieder in seiner Heimatstadt Heidelberg. 1991 veröffentlichte er zusammen mit Volker Grassmuck "Das Müll-System. Eine metarealistische Bestandsaufnahme". Demnächst erscheint "Alien Mensch. Vom Sondermüll zur Selbsterkenntnis".

Christian Unverzagt steht auf einem Hügel über einer Stadt und lächelt in einer Großaufnahme in die Kamera.
© privat
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