Richard Russo: "Immergleiche Wege"

Vom Kummer einer makellosen Studentin

Es ist eine lang zurückliegende Kritik, die die einst vielversprechende Literaturwissenschaftlerin in der Erzählung "Reitersmann" nicht verarbeiten kann.
Es ist eine lang zurückliegende Kritik, die die einst vielversprechende Literaturwissenschaftlerin in der Erzählung "Reitersmann" nicht verarbeiten kann. © picture alliance / blickwinkel; DuMont Verlag
Von Rainer Moritz · 30.07.2018
Auf dass der Mensch sich selbst reflektiere! Der US-Autor Richard Russo erzählt in "Immergleiche Wege" kunstvoll von den Schwierigkeiten, sich selbst in komplizierten Situationen treu zu bleiben – mal humorvoll, mal melancholisch.
Mittlerweile hat es sich auch in bei uns herumgesprochen, dass der Amerikaner Richard Russo, Jahrgang 1949, ein großartiger Erzähler ist: Ausgestattet mit einem gehörigen Sinn für Situationskomik gelingt es ihm, die Sehnsüchte und Hoffnungen seiner Landsleute in eindringlichen Lebensgeschichten einzufangen.
In Romanen wie "Diese gottverdammten Träume", 2001 erschienen und mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, oder "Ein Mann der Tat" hat sich Russo als Meister darin erwiesen, ein von Abstiegsängsten begleitetes Leben in heruntergekommenen amerikanischen Kleinstädten zu beschreiben – und die Perspektive der Menschen aufzuzeigen, die von Fortschritt und Wohlstand abgehängt sind.

Menschen, die um das kämpfen, was sie bedrängt

Seine neuen Erzählungen "Immergleiche Wege" (2017 im Original unter dem Titel "Trajectory" erschienen) wechseln nun das Milieu. Russos vier Geschichten führen an Orte und Szenarien, die der Autor selbst gut kennt. Immer wieder sind es Schilderungen von Menschen, die mit sich selbst, mit wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben, eine eher unerfreuliche Lebenszwischenbilanz ziehen, mit sich nicht im Reinen sind und doch nicht aufgeben, mit dem zu kämpfen, was sie bedrängt.
In "Milton und Marcus" ist es ein Drehbuchschreiber, der in Hollywood noch auf seine alten Tage zu reüssieren hofft. In anderen Geschichten haben wir es mit einem Immobilienmakler zu tun, den die Finanzkrise in die Knie zwingt und mit einem Universitätsdozenten, der in Ungnade gefallen ist: Er hat sich einer Studentin mit Asperger-Syndrom so intensiv angenommen, dass die Dekanin und die Studierenden das für unangemessen halten. Nun hofft er auf einer Venedig-Reise auf Regeneration.

"Ich bin siebenundfünfzig", klagt eine von Russos Figuren, "und Tag für Tag muss ich mich anlügen, um weiterzumachen zu können." Damit steht sie nicht allein, und es ist eine der vielen literarischen Qualitäten Russos, diese Haltung, die manchmal auch eine übertriebene Selbstanklage ist, schonungslos aufzudecken. Ist es möglich, ohne Selbstbetrug durchs Leben zu kommen? Oder kommt es nur darauf an, mit diesem Selbstbetrug offen umzugehen und ihn nicht zu leugnen?

Auf den ersten Blick kein Ausweg

Auf raffinierte Weise verknüpft Russo diese existenziellen Fragen mit dem, was Literatur und die Beschäftigung mit ihr leisten sollte. In der Auftakterzählung "Reitersmann" – vielleicht der beste Text des Bandes – lässt Russo die Universitätsdozentin Janet Moore zurückdenken an die Anfänge ihrer Karriere. Damals galt sie als vielversprechende Literaturwissenschaftlerin, die makellose Seminararbeiten vorzulegen pflegte. Bis einer ihrer Lehrer ihr schonungslos erläuterte, dass sie trotzdem nicht "gut" sei – weil sie Literatur studiere, um "sich von sich selbst zu distanzieren". Ganz anders als jene Studentin mit Asperger-Syndrom, die in ihren literaturwissenschaftlichen Arbeiten nie von sich selbst abstrahiere und eine "Stimme" entwickele.
So zeigt Richard Russo auch in seinen Erzählungen, wie schwierig es ist, sich selbst treu zu bleiben, und was es heißt, mit komplexen und komplizierten Situationen umzugehen – auch wenn sich auf den ersten Blick kein Ausweg zeigt. Wie er darüber mal mit zartem Humor, mal mit melancholischer Grundierung schreibt, macht seine Kunst aus.

Richard Russo: "Immergleiche Wege. Erzählungen"
Aus dem Englischen von Monika Köpfer
DuMont Verlag, Köln 2018
302 Seiten, 23,00 Euro

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