Familie als gemütliches Elend

01.12.2010
Cape Cod, das Kabeljau Kap, ist eine Halbinsel an der Küste von Massachusetts. Ein Hauptferiengebiet Neuenglands und im Sommer regelmäßiges Reiseziel der Familie Griffin. Vater und Mutter, Universitätsprofessoren für englische Literatur, waren "weniger miteinander als mit einem Gefühl der Erbitterung verheiratet gewesen", erinnert sich Jahrzehnte später ihr Sohn Jack.
Der ist mittlerweile Mitte fünfzig und die Hauptfigur im neuen Roman des amerikanischen Schriftstellers, Drehbuchautors und Pulitzerpreisträgers Richard Russo.

Jack, der seit einiger Zeit an Schlaflosigkeit leidet, ist wieder auf dem Weg zum Cape. Eingeladen zu einer Hochzeit. Er und seine Frau Joy reisen getrennt an, was ihm Zeit gibt, über seine Kindheit und die Ehe seiner Eltern nachzudenken. Ungetrübt, das wird schnell deutlich, war beides nicht.

Vater und Mutter, an Eliteuniversitäten der Ostküste ausgebildet, hatten es nicht geschafft, sich dort auch als Lehrende zu behaupten. Und führten so eine durchschnittliche Akademikerexistenz im "Scheiß-Mittelwesten". Den Sohn empfanden sie keineswegs als Bereicherung ihres Lebens. "Ihr angeblicher Respekt vor seiner Privatsphäre war, wie er nur zu gut wusste, in erster Linie Desinteresse gewesen."

Der Vater war ein "echter Serienseitenspringer", die Mutter erbarmungslos snobistisch und dauerhaft unzufrieden. Allein in den Ferien auf dem Cape schienen sie mit sich und der Welt im Reinen, vereint durch die Idee, dort ein Sommerhaus zu kaufen – wozu es aber nie kam.

Jack, der den Lebensstil seiner Eltern stets abgelehnt hat, muss feststellen, dass er mittlerweile selbst eine ähnlich mediokre Existenz führt wie sie. Lange Zeit hat er in Los Angeles als Drehbuchautor gelebt, dieses ungebundene Leben aber aufgegeben und unterrichtet schon eine Ewigkeit an einem unbedeutenden College. Während der Hochzeit auf dem Cape wird offenbar, wie tief er in einer Midlife-Crisis steckt. Und wie wenig man der eigenen Familiengeschichte entkommen kann.

Erfolglos versucht Jack, die Asche seines Vaters zu entsorgen, die er seit einem Jahr in einer Urne durch die Gegend fährt. Es kommt zum Streit mit seiner Frau, die seine innere Unzufriedenheit nicht länger teilen will. Und er bekommt von einem alten Bekannten aus L. A. das Angebot, wieder als Drehbuchautor zu arbeiten – seine alte Sehnsucht.

Russos Roman erstreckt sich über den Zeitraum von einem Jahr, beginnt mit einer Hochzeit und endet mit einer – der von Jacks Tochter Laura, die ihre Jungfräulichkeit für die Ehe aufgehoben hat. In seinem Kofferraum befindet sich nun auch die Urne mit der Asche seiner mittlerweile verstorbenen Mutter. Er und seine Frau haben inzwischen jeweils neue Partner, sind innerlich ruhiger als im Jahr zuvor, doch nicht wirklich glücklich.

Ein melancholischer Ton durchzieht die Geschichte, immer wieder durchbrochen von der Lust des Autors an sardonischer Heiterkeit, bisweilen gar Slapstick. Seine lässig ironischen Kommentare, pointensicher und lebensklug, machen die Lektüre zum Vergnügen. Familie wird hier als gemütliches Elend gezeigt, als das nervtötende Vertraute.

Dramatische und komische Aspekte halten sich in der Schilderung Richard Russos auf wundersame Weise die Waage. Midlife-Crisis, immerwährende Sehnsucht nach Erfüllung und Glück, Weitergabe familiärer Neurosen – alles ein alter Hut. Doch selten so scheinbar unaufwendig und zugleich tiefgründig gelüftet wie von Richard Russo.

Besprochen von Carsten Hueck

Richard Russo: Diese alte Sehnsucht
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
DuMont Verlag, Köln 2010
348 Seiten, 19,95 Euro