Benny Morris: Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems
© Verlag Hentrich & Hentrich
Zahlen und Fakten zur Geschichte Palästinas
07:37 Minuten

Benny Morris
Übersetzt von Hartmut Lenhard
Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems. Eine NeubetrachtungHentrich & Hentrich, Leipzig 2025826 Seiten
39,00 Euro
Die skrupulös recherchierte, mittlerweile klassische Studie des Historikers Benny Morris liegt endlich auf Deutsch vor. Das Buch bringt Licht in eine von Leugnung und Verzerrung umstellte Thematik, die von höherer Aktualität nicht sein könnte.
Als der israelische Historiker Benny Morris 1988 seine umfangreiche Studie "Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems" veröffentlichte, war die Empörung groß. Ohne ihm methodologisch am Zeug flicken zu können, bezeichneten ihn rechte israelische Publizisten sogleich als "Nestbeschmutzer". Arabische Historiker ließen sich auf eine Debatte gar nicht erst ein und beschuldigen den 1948 geborenen Morris, "ein besonders abgefeimter Zionist" zu sein.
Nun ist das Buch – mit inzwischen neu erschlossenem Archivmaterial aus israelischen Armee- und britischen Geheimdienstbeständen und dadurch noch einmal um die Hälfe umfangreicher geworden – endlich auch in deutscher Übersetzung erschienen.

Der israelische Historiker Benny Morris im Porträt© imago / dts Nachrichtenagentur
Über 800 Seiten inklusive Anmerkungen und einem aktuellen Gespräch mit Benny Morris über eine Frage, die – bei merkwürdiger Aufmerksamkeitsabwesenheit für andere, qualitativ und quantitativ ungleich dramatischere Fluchtbewegungen – mittlerweile nahezu die gesamte kommentierende Welt umzutreiben scheint.
Ein Desaster in Etappen
Es geht hierbei um die Einordnung jener circa 700.000 Palästinenser, die in den Jahren von 1947 bis 1950 das damalige britische Mandatsgebiet und das nach UNO-Beschluss 1948 gegründete Israel verlassen hatten bzw. flohen oder vertrieben wurden.
Letzteres wurde im offiziellen Israel lange geleugnet, dabei ist die Quellenlage eindeutig: Im Zuge des von den arabischen Anrainerstaaten 1948 begonnenen Krieges gegen Israel – dem UN-Teilungsplan von 1947 hatte zuvor die israelische Seite zugestimmt, während die palästinensisch-arabische Seite abgelehnt hatte – war es durch die israelische Armee zur Einnahme und Zerstörung zahlreicher Dörfer und zur Vertreibung ihrer Bewohner gekommen.
Der Armee nicht zugehörige Milizen hatten sogar Massaker verübt wie jenes von Deir Yassin mit über hundert Zivilopfern. Besonders diese Thematisierung nimmt Israels Rechte bis heute Benny Morris übel.
Dieses Geschehen – innerhalb einer Kriegssituation und in Anbetracht der Anwesenheit zahlreicher palästinensischer Kombattanten an jenen Orten – war jedoch bereits eine weitere Phase in einem Prozess, der eine lange Vorgeschichte hatte.
Bis heute kaum bekannte Fakten
Infolge der immens verbesserten Lebenssituation aufgrund der zuerst türkisch-osmanischen und dann ab 1918 britischen Herrschaft waren viele Araber aus den umgrenzenden Territorien ins damalige Palästina gezogen. Ihr Anteil hatte sich im Laufe der Jahrzehnte auf circa 1,3 Millionen erhöht.
Jene unter ihnen, die die einflussreiche Mittel- und Oberschicht bildeten, lebten vor allem in den Städten Jaffa, Jerusalem und Haifa. Sie wollten ab 1947 weder einen bi-nationalen, jüdisch-palästinensischen Staat, noch gar eine israelische Souveränität. Dank zahlreicher Verwandtschaftsbeziehungen zogen sie nach Beirut, Kairo und Amman.
Eine politisch-psychologisch verheerende Abwanderung, denn ihre freigewordenen Häuser wurden sogleich von palästinensischen Freischärlern geplündert und besetzt, während zahllose einfache Leute den Aufrufen örtlicher Muezzine und Funktionäre folgten, ihre Heimstätten temporär zu verlassen, "bis die Juden niedergerungen" wären.
Die Mehrheit aber entschloss sich zum Bleiben, freilich verschüchtert und in der Erwartung, "die Juden würden mit uns das gleiche tun, was wir im Fall eines Sieges mit ihnen tun würden".
Vertreibungen – aber kein "Masterplan"
Dieses von Monat zu Monat sich verschärfende Geschehen, die von Ort zu Ort unterschiedlichen Ausgangslagen und die ad hoc-Entscheidungen der jungen, sich im Inneren und Äußeren umzingelt sehenden israelischen Armee-Einheiten wird von Benny Morris ohne jegliches manipulative Tremolo geschildert.
Auch der bis heute im sogenannten „israelkritischen Diskurs“ auftauchende, und von der israelischen Rechten gern relativierte, "Plan D" wird en détail analysiert. Mit Blick auf die kommende panarabische Invasion entwickelt, führte dieser im Laufe der Kriegshandlungen nämlich ganz zweifelsfrei zu Vertreibungen. Und war dennoch mitnichten eine Art Masterplan zur "ethnischen Säuberung".
Ohne widerfahrenes menschliches Leid zu leugnen, zählen auch hier die Tatsachen: Die Mehrheit der im Gebiet des heutigen Israel lebenden Araber verblieb damals an ihren Heimatorten. Diese Menschen zählen heute über zwei Millionen und bilden damit 21 Prozent der israelischen Staatsbürger.
Die Zahl der von 1947-1950 Weggegangenen, Geflohenen und Vertriebenen hat sich von 700.000 auf inzwischen sechs Millionen vervielfacht – denn die umliegenden arabischen Staaten und die auf Dauer angelegte UN-Flüchtlingsorganisation UNRWA zählen bis zum heutigen Tag jeden Nachgeborenen dazu. Was für eine Lösung des gewaltsam andauernden Konflikts gewiss nicht hilfreich ist, um das Mindeste zu sagen.
Mag es also auch eine Illusion sein, darauf zu hoffen, dass Benny Morris' faktengesättigtes Buch die Mythen auf beiden Seiten nachhaltig zu zerschlagen vermag: Diese Studie gehört in die Hand eines jeden, der sich bei diesem Thema zum Mitreden motiviert findet.