Repräsentative Demokratie

Parlamente sind ein Segen

Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) spricht am 29.04.2016 in Berlin im Bundestag zu den Abgeordneten.
"Alles mitbestimmen zu wollen, wäre eine heillose Überforderung", meint Sylke Tempel, und deshalb sei es gut, dass der Souverän durch seine Abgeordneten entlastet wird. © picture alliance/dpa/Sophia Kembowski
Von Sylke Tempel · 22.06.2016
"Affenhaus" oder "Quasselbude" - Parlamente zu diffamieren, ist eine gewohnte Übung, seit es den Parlamentarismus gibt. Und der Beruf des Politikers? Immer auf den letzten Rängen. Die Politikwissenschaftlerin Sylke Tempel findet diesen Umgang mit der Institution Parlament bedenklich.
Es gehört zur Grundklage aller EU-Skeptiker: Die Europäische Union sei doch viel zu undemokratisch! Man sehe sich doch einmal dieses europäische Parlament an! Nichts anderes als ein Haufen ausrangierter Politiker, die Reisekosten verursachten und ansonsten nicht viel zu melden hätten. Zeit wäre es, so hört man zwischen Lissabon und Warschau, Helsinki und Athen, den nationalen Parlamenten wieder mehr Macht zu übertragen und nicht alles an Brüssel beziehungsweise Straßburg zu delegieren.
Nun würde ja niemand behaupten wollen, dass die EU nicht dringend reformbedürftig wäre. Aber die Kritik am Europäischen Parlament ist schon recht wohlfeil.

EU-Parlament präsent wie nie zuvor

Zu keiner Zeit in der Geschichte der EU war der Parlamentspräsident so umtriebig, so gesprächsbereit für die Bürger aller EU-Mitgliedsstaaten. Man kann Martin Schulz gut finden oder nicht, mögen oder nicht. Aber man wird nicht bestreiten können, dass das europäische Parlament unter seinem Vorsitz sicht- und hörbarer denn je geworden ist. Und dass es sich immer mehr Kompetenzen von der Kommission erstreitet.
Wer gerne wissen will, was die Parlamentarier so treiben, der muss doch nur auf den Webseiten der Abgeordneten nachlesen.
"Aber das ist es ja!", wird an dieser Stelle gern eingewandt: "Man kennt die Leute ja gar nicht!" Das aber liegt nun wirklich nicht nur an den Abgeordneten. Sie alle haben 2014 einen offenen, europaweiten Wahlkampf geführt. Und Hand aufs Herz: Wer kennt eigentlich "seinen" Bundestagsabgeordneten? Wer kann den Namen des Präsidenten "seines" jeweiligen Länderparlaments nennen? Und wer weiß wirklich so genau, wer alles im Stadtrat seiner Gemeinde sitzt?
In Wirklichkeit entstammt die Kritik am Europäischen Parlament weniger einem Unbehagen an der Europäischen Union als einer Fundamentalkritik an der repräsentativen Demokratie. Viele der momentan lautstärksten Kritiker des Europäischen Parlaments, die Befürworter eines Brexit, wünschen sich angeblich nichts sehnlicher als ihre gute alte, von Europa unbeeinflusste Westminster-Demokratie.
Ach ja? Und warum sind das oft die gleichen Leute, die auf "ihre" Westminster-Parlamentarier schimpfen wie die Rohrspatzen? Aus übrigens den gleichen Gründen: Die seien ja alle viel zu weit weg, lebensfern etc.pp.

Am besten soll immer das Volk direkt entscheiden?

Eigentlich will man wohl etwas anderes sagen: Man traut den Volksvertretern nicht mehr viel zu. Oder man findet, dass diese Abgeordneten ihre Arbeit nicht transparent genug verrichten. Am besten wäre es doch, wenn das Volk über alles entscheiden könnte!
Wirklich? Das gleiche Wahlvolk, das gerne zu Protokoll gibt, dass es wahlmüde sei, will nun plötzlich Referenden über alles und jenes?
Das wäre, um es rundheraus zusagen, eine ganz schlechte Idee.
Der Grundgedanke der repräsentativen Demokratie war es doch, den Souverän nicht nur angemessen und würdevoll zu vertreten, sondern ihn auch zu entlasten. Er soll gar nicht über jede Verästelung von Gesundheits- oder Steuerreform, über Paragrafen und Paragräfchen Bescheid wissen müssen. Er darf das an Abgeordnete und deren Mitarbeiter übergeben. Alles mitbestimmen zu wollen, wäre eine heillose Überforderung.

TTIP ist ein Beispiel der Lethargie

Nehmen wir die TTIP-Debatte. Seit Monaten sind alle Verhandlungsergebnisse offen im Internet einsehbar. Sie wurden keine 400 Mal angeklickt. Warum? Weil es sich bei TTIP eben nicht um die große Verschwörung zur Einführung des Chlorhuhns handelt, sondern um sturzlangweilige Einzelheiten zu tarifären und nicht-tarifären Zöllen und Abgaben. Man muss die Materie schon wirklich mögen, um sich damit ausgiebig zu beschäftigen.
Sehr wohl aber darf und soll der Souverän darüber abstimmen, ob die von ihm entsandten Abgeordneten die Kärrner-Arbeit im Weingarten oft sehr kleinteiliger Gesetzesvorlagen auch ordentlich erledigen. Das gilt für das nationale Parlament. Und das gilt erst recht für das Europäische Parlament. Denn das hat nun einmal die Aufgabe, Vorlagen zu kontrollieren, die alle europäischen Länder betreffen.
Wenn das nicht ein Grund wäre, es bei der nächsten Wahl mit großer Beteiligung zu stärken.

Sylke Tempel, Jahrgang 1963, studierte Politologie, Geschichte und Judaistik, bevor sie für verschiedene Zeitungen als Korrespondentin aus dem Nahen Osten berichtete. Derzeit ist sie Chefredakteurin der Zeitschrift "Internationale Politik" in Berlin, die von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik herausgegeben wird. Zuletzt hat sie zwei Bücher geschrieben: "Israel – eine durch ein altes neues Land" (2008) und "Freya von Moltke. Ein Leben. Ein Jahrhundert" (2010), beide im Rowohlt Verlag erschienen.

© Marco Limberg
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