Reichspogromnacht

"Ich war von meinen Gefühlen abgeschnitten"

Davidstern in der jüdischen Gedenkstätte auf dem Gelände des KZ Dachau
Davidstern in der jüdischen Gedenkstätte auf dem Gelände des KZ Dachau © picture alliance / dpa / Sven Hoppe
Salomea Genin im Gespräch mit Dieter Kassel · 09.11.2017
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zerstörten SA- und SS-Truppen mehr als 8000 jüdische Geschäfte. Überall brannten Synagogen. Salomea Genin hat die Gewalt damals erlebt - und berichtet, was der Antisemitismus mit ihrem Selbstbild gemacht hat.
Dieter Kassel: In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 organisierten SA-Truppen und Angehörige der SS überall im Deutschen Reich gewalttätige Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung. Mehr als 8.000 jüdische Geschäfte wurden zerstört, unzählige Privatwohnungen. Im Reich brannten mehrere Hundert Synagogen. Das Ganze ist in die Geschichte eingegangen als Reichspogromnacht.
Salomea Genin war damals sechs Jahre alt und lebte mit ihrer Familie in der Nähe des Berliner Alexanderplatzes. Sie hat sich dann mit ihrer Familie 1939 ins australische Exil gerettet und ist dann 1958 wieder zurückgekehrt nach Deutschland und ist jetzt am Telefon hier in Berlin. Einen schönen guten Morgen, Frau Genin!
Salomea Genin: Guten Morgen!
Kassel: Wie haben Sie damals als junges Mädchen diesen 9. November erlebt?

Wir hörten Stiefel rennen und Schreie

Genin: Ich fing an zu merken, dass irgendetwas nicht normal ist, weil wir saßen in unserem Wohnzimmer, das zur Straße raus ging, und hörten dann Stiefel rennen und Schreie. Und dann klingelte es an unserer Tür. Und wir hatten zwei andere jüdische Familien in unserem Haus, und da war der Vater einer der Familien, der uns warnte, geht heute nicht raus. Man hätte 300 Juden in die Synagoge in der Oranienburger Straße reingepfercht und würde jetzt die Synagoge anzünden.
Das hörte ich natürlich, wie er das meiner Mutter erzählte. Es hat sich aber als ein Gerücht herausgestellt. Das passierte doch nicht. Aber ich erinnere mich gut. Am nächsten Morgen bin ich zwischen meiner großen Schwester und meiner Mutter durch die Straßen gelaufen und musste immer zwischen Glasscherben den Weg suchen. Und halb Berlin war auf den Beinen und guckte sich an, was da in der Nacht passiert war. Es war eine sehr bedrohliche Atmosphäre.
Kassel: Hatten Sie damals das Gefühl, dieses Bedrohliche, dieses Gefühl auch, was war das, und wie geht es jetzt weiter, betraf nur die Juden, die Sie auf der Straße getroffen haben, oder hatten Sie das Gefühl, da hat sich das ganze Viertel erschreckt?
Genin: Nein. Die Menschen guckten einfach neugierig. Ich habe – ich erinnere Sie, ich war sechs Jahre alt – ich habe nichts von Erschrecken bei den anderen gemerkt, sondern nur Neugierde. Na ja, in dem Alter war ich nicht in der Lage, darüber nachzudenken.
Kassel: Relativ bald danach haben Sie ja Deutschland dann erst mal verlassen, haben eine Weile in Australien gelebt. Sie sind 1958 zurückgekommen. Was für ein Gefühl hatten Sie als Jüdin dann ab '58 in Deutschland? Wie sind die Menschen, denen Sie neu begegnet sind, denen Sie vielleicht auch mal wiederbegegnet sind, mit Ihnen umgegangen?

Zutiefst traumatisiert

Genin: Wissen Sie, ich war von meinen Gefühlen sehr abgeschnitten, denn ich war in dieser Zeit, in den 30er-Jahren zutiefst traumatisiert und habe dann jahrzehntelang gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass ich unbewusst das Gefühl bekommen hatte in den 30er-Jahren, ich bin eine dreckige Jüdin. Und ich wollte eigentlich, dass die Deutschen – die es nicht gibt, deswegen sage ich es auf diese Weise, genauso wenig, wie es die Juden gibt oder die Polen oder weiß ich wen. Da habe ich nicht gemerkt, wie Menschen mir begegneten. Ich war sehr naiv und habe nicht verstanden, was eigentlich um mich herum vor sich ging.
Kassel: Was meinen Sie jetzt im Nachhinein, als Mensch, der das jetzt begreift. Was ging denn damals um Sie herum vor sich?
Genin: Leute waren teilweise erschrocken, wenn sie erfuhren, dass ich Jüdin war. Wissen Sie, ich habe nicht so Deutsch gesprochen wie jetzt, und da wurde ich manchmal gefragt: Sagen Sie mal, wo kommen Sie denn her, Ihre Sprache ist so melodisch? Und da sage ich, aus Australien. – Was, Australien? Wie sind Sie denn dahin gekommen? Dann erzähle ich, ja, '39 mussten wir flüchten. – Ach so, ah! Und dann kam manchmal, mehr als manchmal so ein Streicheln auf meinem Arm, und dann der Satz – ich lernte dann, darauf zu warten, es kam auch meistens, oft: Ich habe auch Juden geholfen, wissen Sie? Ja. Okay. Ich habe es zur Kenntnis genommen. Es gibt einen Witz: Wie viele Juden gab es denn eigentlich in Deutschland 1936? Na ja, kam die Antwort, 80 Millionen. – Wie bitte? 80 Millionen Juden in Deutschland? Ja, ja, sagt der andere, alle Deutsche haben doch einem Juden geholfen. Ja, das war ein Witz in jüdischen Kreisen, der damals, nach '45, da rumgegangen ist.
Kassel: Damals, Sie haben es ja erzählt, haben viele Leute halt sich selbst versucht, dieses Image zu geben, wir haben geholfen, aber ich glaube, das ist Weltgeschichte. Ich glaube, mit dem Fall der Mauer waren ja auch alle Menschen plötzlich Oppositionelle gewesen.
Genin: Richtig.
Kassel: Aber das ist, da müssen wir aber ehrlich sein, nichts Deutsches. Das ist, glaube ich, überall auf der Welt so, in Südafrika gab es auch keine Rassisten mehr plötzlich, nach dem Ende der Apartheid. Aber wann haben Sie denn das erste Mal in Deutschland persönlich – also nach Ihrer Rückkehr meine ich natürlich – persönlich wieder Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht?

Keiner wollte Antisemit gewesen sein

Genin: Das Problem war, keiner wollte Antisemit sein. 250 Jahre war es normal, antisemitisch zu sein. Es gab sogar im vorletzten Jahrhundert zwei Parteien, eine nannte sich die Antisemitische Liga. Es war nicht verpönt, Antisemit zu sein.
Nach '45 haben viele Menschen das Gefühl bekommen, ich darf kein Antisemit sein, das ist etwas Böses. Aber ihre Vorurteile, die hatten sie alle – Entschuldigung, man darf nicht so verallgemeinern. Viele hatten diese Vorurteile, und viele haben sie heute noch, dass alle Juden reich sind, dass alle Juden hochintelligent sind. Danke schön, das ist etwas Positives, und trotzdem ist es nicht wahr. Sie sind aus dem Bauch heraus diese Stereotypen nie losgeworden.
Kassel: Aber wenn Sie heute hören, und das hören wir alle, ich habe das natürlich auch mitbekommen, dass an deutschen Schulen, Schulen hier mitten in Berlin, ein paar Kilometer weit weg von da, wo wir beide gerade jeweils sind, "du Jude" ein Schimpfwort ist, übrigens auch für Menschen, ganz egal, ob die einen jüdischen Hintergrund haben oder nicht. Nach dem, was Sie jetzt gesagt haben, Sagen Sie, da wird wieder etwas ausgesprochen, was immer da war, oder haben Sie das Gefühl, das wird auch langsam wieder stärker?

Der heutige Antisemitismus ist auch importiert

Genin: Ich glaube, es wird da etwas ausgesprochen, was hier dazu, zu dem, was schon war, importiert worden ist, denn in arabischen Ländern ist es völlig normal, Antisemit zu sein. Man mag Juden nicht. Und für mich ist es erschreckend, wenn heute wieder – nicht wieder, Entschuldigung – wenn heute Leute öffentlich sagen, Antisemitismus ist nur dann, wenn man zum Mord an Juden aufruft. Der ganz normale Antisemitismus der letzten Jahrhunderte war die Grundlage für den Holocaust. Und wenn das nicht gesehen wird, na ja danke, dann fange ich an, meine Koffer zu packen.
Kassel: Das tun Sie bitte nicht, ich möchte mich gern das nächste Mal persönlich mit Ihnen unterhalten, und nicht nur am Telefon. Frau Genin, ich wünsche Ihnen einen wunderschönen, auch wenn es vom Gedenken her natürlich ein schrecklicher Tag ist heute, trotzdem einen wunderschönen Donnerstag und danke Ihnen sehr, dass Sie Zeit für uns hatten.
Genin: Darf ich noch eines dazu sagen? Ich bin zutiefst beeindruckt von dem, was die Sophienkirche da gerade gestern ausgestellt hat: Etwa 50 Bilder von überlebt habenden Juden mit ihren Geschichten darunter. Ich bin sehr davon beeindruckt.
Kassel: Haben wir fast noch einen Veranstaltungstipp. Ich bin sehr von Ihnen beeindruckt. Jetzt noch mal vielen Dank, Frau Genin!
Genin: Gern geschehen. Tschüs!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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