"Nicht das Problem einer bestimmten Gruppe"
Antisemitismus in Deutschland wird häufig vor allem als Problem der muslimischen Minderheit gesehen. Marina Chernivsky vom Kompetenzzentrum Prävention und Empowerment widerspricht: "Antisemitismus zieht sich durch alle Bevölkerungsgruppen."
Dieter Kassel: Der Fall eines jüdischen Schülers, den seine Eltern von einer Schule in einem relativ bürgerlichen Stadtteils Berlins nahmen, weil er dort gemobbt und bedroht wurde, hat vor einigen Wochen weit über die Grenzen der Stadt hinaus Aufsehen erregt. Übrigens läuft heute Abend im Fernsehsender ARTE eine Reportage zu diesem Fall. Gleichzeitig findet gerade jetzt in Berlin ein Symposium zum Thema "Antisemitismus in der Schule, ein beständiges Problem" statt. Mitorganisatorin ist Marina Chernivsky. Sie ist Leiterin des Kompetenzzentrums Prävention und Empowerment. Schönen guten Morgen, Frau Chernivsky!
Marina Chernivsky: Guten Morgen!
Kassel: Dieser eine Fall eines Schülers in Berlin-Friedenau hat zwar ziemlich viel Aufsehen erregt, aber es hieß da in diesem Zusammenhang immer, das sei grundsätzlich kein Einzelfall. Wie alltäglich ist denn Antisemitismus an deutschen Schulen?
Chernivsky: Wenn wir von Antisemitismus sprechen, außerhalb der Schule, überhaupt, als ein gesellschaftliches Problem, dann zieht es sich durch alle Schichten und Bevölkerungsgruppen und ist wie jedes andere Phänomen ein System. Es kann nicht sein, dass es ein Einzelfall ist, wie auch Diskriminierung zu keinem Einzelfall gehört. Er gehört zur Schule, und er findet immer wieder statt in verschiedenen Formen, muss ich dazu sagen, von subtileren bis hin zu offenen und aggressiveren Formen, wo auch Gewalt eine Rolle spielt, auch [...]* Gewalt.
"Antisemitismus zieht sich durch alle Bevölkerungsgruppen"
Wir haben gestern beim Symposium auch die Frage diskutiert, was ist passiert, dass wir gerade jetzt, die letzten Monate, vielleicht auch die letzten Jahre dieses Thema so ganz besonders angehen. Und die Frage wurde gestellt, war das denn früher anders. Ich muss dazu sagen, es gab früher schon Fälle, also, es ist kein aktuell neues Thema. Aber wir sind, glaube ich, jetzt eher bereit, darüber zu sprechen, und es gibt auch hier und dort Debatten, die uns dabei unterstützen, dieses Thema dann sichtbarer zu machen und die Debatte einfach weiterzuentwickeln, weil man muss sie am Leben halten, damit wir dann auch die Möglichkeit haben, dieses Thema als relevantes Thema, als aktuelles Thema an die Schulen und an andere Bildungseinrichtungen zu bringen.
Kassel: Wenn Sie gerade die Frage stellen, war das früher wirklich anders, sind wir jetzt nur aufmerksamer oder hat sich da was verändert, welche Rolle spielen denn gerade bei Antisemitismus an der Schule muslimische Schüler?
Chernivsky: Ich habe vorhin gesagt, Antisemitismus zieht sich durch alle Bevölkerungsgruppen. Ich glaube, das ist nicht das Problem einer bestimmten Gruppe. Wenn wir es auslagern, haben wir dann die Schwierigkeit, das Problem tatsächlich zu erkennen, zu identifizieren. Muslimische Schüler haben ganz sicher in unterschiedlicher Form antisemitische Konstruktionen im Kopf. Ich würde sagen, auch die alte Konstruktion der jüdischen Macht, der sogenannten jüdische Macht, und auch Verschwörungstheorie. Das ist etwas, was einfach vorhanden ist. Aber das ist unter allen Jugendlichen möglicherweise vorhanden in der einen oder anderen Form. Ich würde es nicht auslagern. Wir müssen natürlich schauen, wie das gruppenspezifisch auftritt, aber eher müssen wir ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass wir alle, unabhängig von der Herkunft, Bildung und dergleichen solche Positionen einnehmen können, weil sie einfach von Generation zu Generation weitertradiert werden.
Antisemitismus darf nicht bagatellisiert werden
Kassel: Wie aber – nun können ja Lehrerinnen und Lehrer und andere Mitarbeiter von Schulen nicht die Gesellschaft schnell mal eben ändern. Wie aber können denn Lehrerinnen und Lehrer mit konkreten Fällen in ihrer Schule dann wirklich umgehen?
Chernivsky: Ich glaube, es gehört dazu, dass Lehrerinnen und Lehrer verstehen, dass sie die Fälle erst mal erkennen müssen, identifizieren müssen, erkennen, dass es sich um ein Problem handelt. Gerade im Friedenau-Fall haben wir gesehen, dass viel darin investiert wurde, den Fall als nicht antisemitisch erscheinen zu lassen, den Fall sozusagen zu bagatellisieren, den nicht als problematisch zu sehen, dementsprechend nicht handeln zu müssen, aus verschiedenen Gründen. Das darf nicht passieren, darf bei keinem Diskriminierungsfall passieren. An der zweiten Stelle oder an erster Stelle müssen Sie den Schutz, den Betroffenen den nötigen Schutz gewährleisten. Das darf nicht ausbleiben, die Solidarität, die Anerkennung des Geschehens, und dann bis hin zu einer kompetenten Klärung des Falls. Es kann aber nicht durch Sanktionen nur erfolgen. Klar, wenn es eine strafrechtlich relevante Geschichte ist, darf auch die Sanktion eingreifen.
Aber eigentlich sind wir als Pädagogen darauf abgezielt, dialogisch möglichst offen solche Fälle zu besprechen. Und da, glaube ich, müssen die Lehrkräfte befähigt werden, auf solche Situationen zu reagieren. Gestern hatte eine Kollegin, die Antidiskriminierungsbeauftragte der Stadt Berlin, etwas sehr Wichtiges gesagt. Sie sagte, Verunsichertsein in schwierigen, komplexen Situationen gehört zum Lehrerberuf, das gehört zu seiner Grundkompetenz, und wir dürfen in den Fortbildungen und Beratungen den Lehrkräften nicht erklären, dass sie irgendwann nach diesen Fortbildungen und Beratungen niemals mehr verunsichert sein werden. Das verunsichert, weil die Aushandlung und der Umgang damit ist eine ganz wichtige, auch berufsbezogene Komponente. Gerade bei diesem Thema, weil jeder Fall ist anders, und jeder Schüler ist anders, ist es ganz besonders bedeutend. Nichtsdestotrotz, wenn wir Schwimmen lernen wollen, dann gehen wir und lernen, wie man schwimmt.
"Im Umgang mit Antisemitismus brauchen wir Wissen"
Im Umgang mit Antisemitismus brauchen wir Wissen. Wir brauchen Wissen, müssen uns befähigen, mit solch komplexen Themen umzugehen, weil sie äußern sich am Schulhof sehr oft. "Jude" als Schimpfwort wird benutzt, keineswegs eine harmlose Konstruktion. Auch der Nahostkonflikt spielt in die deutschen Klassenzimmer rein. Wir haben noch mit anderen Kategorien zu tun, von denen übrigens auch die Betroffenen oft erzählen, die Bagatellisierung und Verharmlosung des Nationalsozialismus, eine ganz große Rolle spielt, dass Jugendliche auch Nazi-Vergleiche oder auch Fälle hervorbringen, die wirklich eigentlich in der Erwachsenenwelt von Menschen mit rechtsextremer Gesinnung sonst praktiziert werden. Also, Schule ist ein Sammelbecken von vielen Konflikten, und damit müssen wir umgehen. Nicht nur Antisemitismus gehört dazu. Antisemitismus ist eher verflochten mit anderen Formen der Ungleichheit und den Routinen der Ungleichheit. Und ich glaube schon, dass wir auch zusammen, all diese Formen zusammendenken müssen.
Kassel: Das heißt aber auch, es bleibt noch eine Menge zu tun, und insofern ist es ja auch ein Vorteil, dass Ihr Symposium auch noch nicht zu Ende ist. Es geht weiter. Marina Chernivsky war das. Sie ist Leiterin des Kompetenzzentrums Prävention und Empowerment und eben, wie erwähnt, auch eine der Organisatorinnen des Symposiums "Antisemitismus in der Schule. Ein beständiges Problem", das gestern begonnen hat und heute in Berlin fortgesetzt wird.
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* Wegen der schlechten Tonqualität des Telefoninterviews sind einzelne Passagen schwer verständlich.