Regisseur Markus Schleinzer über "Angelo"

Aufstieg eines Sklaven

12:40 Minuten
Das Foto zeigt einen kleinen dunkelhäutigen Jungen mit einer adelig gekleideten Frau aus dem frühen 18. Jahrhundert.
Die Comtesse und ihr Studienobjekt: "Hofmohr" Angelo wird als Sklave aus Afrika nach Europa verschleppt. © Grandfilm
Moderation: Patrick Wellinski · 30.11.2019
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Markus Schleinzer zeichnet in seinem Film "Angelo" das Leben des aus Afrika verschleppten Angelo Soliman nach. Soliman fristete sein Erwachsenenleben in Wien als Exot und "Hofmohr". Ein nüchterner, analytischer Film, der dennoch erschüttert.
Patrick Wellinski: Angelo Soliman kam im 18. Jahrhundert als junger Sklave von Afrika nach Europa. Dort stieg der Junge zum sogenannten "Hofmohren" auf, Kammerdiener, Prinzenerzieher und Freimaurer. Am österreichischen Hofe eine Ausnahme, führte er ein Leben in der Fremde als Fremder. Nach seinem Tod wurde Solimans Leichnam präpariert und ausgestellt. Ein bis heute skandalöser Vorgang.
Angelo Solimans Leben hat der österreichische Regisseur Markus Schleinzer verfilmt. Sehr analytisch ist der Film geworden, der gar nicht so sehr unser Einfühlvermögen fordert, sondern uns zwingt, uns endlich mit den Auswüchsen des europäischen Kolonialismus heute auseinanderzusetzen. Vor der Sendung habe ich Markus Schleinzer besucht, und ich wollte zunächst von ihm wissen, ob die historische Figur Angelo Soliman in Österreich vielen oder nur wenig bekannt ist.
Markus Schleinzer: Angelo Soliman ist in Wien und Österreich ein sehr großer Begriff, er ist eine mythologische Stadtfigur. Angelo Soliman war ein Mensch, der nachweislich in Wien gelebt hat. Man hat nicht sehr viele Dokumente über ihn, die erhalten sind. Es gibt auch nur zwei Briefe, wo er im Originalton sprechen kann, aber er war das, was man heute und auch damals einen 'Hofmohren' nennt. Er wurde sehr früh in seinem Leben aus Afrika verschleppt, man spekuliert, dass er da fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein muss, und sein Schicksal hat ihn über mehrere Länder dann auch nach Wien geführt, wo er beim Fürsten Liechtenstein als Hofmohr tätig war.

Geschichte als Ankedote

Wellinski: Das ist ja schon spannend. Man hat wenige Dokumente, und trotzdem, wenn man anfängt zu recherchieren - die Geschichtswissenschaft hat schon einen recht klaren Angelo Soliman vor Augen. Sein Aufstieg dann am Hofe, sein Freimaurertum, dass er angeblich sechs Sprachen sprach, seine Freundschaft mit Mozart, doch beim genaueren Hinsehen weiß man letztendlich doch nicht so viel. Vieles ist gedeutet und geschönt, aber was an dieser fragmentarischen Biografie hat Sie denn als Geschichtenerzähler, als Filmemacher interessiert, dass Sie gesagt haben, über dieses Leben mache ich meinen zweiten Spielfilm?
Schleinzer: Also vorwegschicken möchte ich: Ich komme ja aus Wien, aus Österreich. Und wir Österreicher haben so ein bissl bis heute einen Umgang, dass wir glauben, dass Geschichtsschreibung eigentlich Anekdotenschreibung ist. Ich bin mit dem Angelo Soliman aufgewachsen. Und vieles, was ich von ihm wusste oder gedacht habe zu wissen, hat sich dann am Beginn der Recherche als das Falsche rausgestellt, weil wir Österreicher so eher einen unscharfen Umgang mit unserer Geschichte haben und wir wahrscheinlich weder den Zweiten noch den Ersten Weltkrieg, wahrscheinlich auch nicht den Dreißigjährigen Krieg aufgearbeitet haben, den wir hier auch mit zu verantworten hatten.
Der österreichische Regisseur Markus Schleinzer bei der Premiere seines Films "Angelo". Er sitzt auf einer Treppe.
Der österreichische Regisseur Markus Schleinzer bei der Premiere seines Films "Angelo".© picture alliance / Karl Schöndorfer / TOPPRESS
Mich hat interessiert, genau dieser Aspekt, dass eigentlich diesen Menschen in der damaligen Zeit eine Form von Identität und Geschichte aufgestülpt und übergestülpt wurde, und das wir das eigentlich bis heute machen, dass wir bis heute einen sehr saloppen Umgang haben mit ihm und dass wir bis heute ihn eigentlich benutzen für das, was wir wollen. Da hat sich der Umgang mit ihm gar nicht so sehr verändert. In diesen Zeiten der Aufklärung hat man irgendwie Menschen hierher verschleppt, die waren ja für uns da, diese schwarzen Menschen, die da als Hofmohren gedient haben. Die waren ja da, um unsere große Herrlichkeit, unsere weltumspannende Macht zu repräsentieren. Das waren Ornamente, und man hat in ihnen diese Geschichte hineingelegt, die man einfach wollte, und das machen wir bis heute.

Zwischen Emanzipation und Zwangsassimilierung

Wellinski: Aber dieses Leben dieses Menschen oder das, was die Geschichtswissenschaft bisher rekonstruiert hat, das zeigt ja auch jemanden im Zwiespalt, also zwischen Emanzipation und Zwangsassimilierung. Also er hatte ja nicht wirklich die Wahl, und dennoch hat man immer wieder das Gefühl, dass er sich dann Arten der Freiheit genommen hat. Haben Sie denn mittlerweile ein klareres Bild über Angelo Soliman gewonnen? War er Profiteur oder Opfer oder beides?
Schleinzer: Ich glaube, dass er ein sehr kluger Mensch war, und insofern denke ich, dass er sicherlich beides war. Opfer bleibst du immer. Wenn deine Lebensgeschichte hier auf dem Kontinent mit einer Entführung beginnt, das kannst du nicht abstreifen. Der Mensch ist ja nicht freiwillig hier gewesen. Also kann man nicht sagen, dass er das erste gelungene Beispiel von Migration ist, wofür in Österreich auch manchmal von gewissen Gruppen gefeiert wird. Aber natürlich denke ich mir, wenn du ein Mensch bist, der in der damaligen Zeit so speziell ist und so erkennbar ist im Außen aufgrund deiner Hautfarbe, dass du irgendwann auch mal müde werden musst, immer dieser Einzelkämpfer zu sein, immer dieses Spezielle an die anhaften zu haben, immer dieser andere zu sein.
Wenn man jetzt davon ausgeht, dass der vielleicht im Alter von fünf, sechs Jahren hier angekommen ist und nicht mehr so viele schwarze Menschen gesehen haben wird wie davor, wann hat dieser Mensch aufgehört, von schwarzen Menschen zu träumen, wann hat dieser Mensch eigentlich begonnen, eigentlich von dem, was er ständig vor der Nase hatte, von Weißen zu träumen. Ich glaube, in uns allen, die wir andere sind in der Gesellschaft, gibt es ja auch irgendwann einmal den Moment der Ermüdung, wo man sich eigentlich auch wahnsinnig danach sehnt, sich in einer gewissen Norm aufzulösen, weil man nicht immer auf das, was einen so speziell macht oder einzigartig macht, verwiesen werden will, wenn das Verweisen ein Begaffen, ein Bestaunen ist.
Ich glaube, dass es Herrn Soliman sehr stark auch so gegangen sei muss in dieser damaligen Zeit der Aufklärung, in der ja die Begrifflichkeit des Rassismus noch gar nicht erfunden war. Denn wenn du einen hast, der so anders ist, dann ist das ja nicht derjenige, vor dem du Angst hast, und Rassismus ist ja aus einem Angstbegriff auch herausgewachsen und entstanden. Erst wenn dann mehrere kommen und die dann vielleicht kommen wollen oder unser Land bevölkern oder unsere Frauen heiraten und sich durchmischen wollen, erst wenn das als Gefahr oder als Angst wahrgenommen wird, erst da beginnt ja eigentlich ein Umdenken. Das heißt, dieser Rassismusbegriff ist ja eigentlich dann 70, 80 Jahre später erst entwickelt worden.

Die Freundschaft mit Mozart ist nicht zu belegen

Wellinski: In Ihrem Film schildern Sie ja episodenhaft unterschiedliche Lebensabschnitte von Soliman. Das führt auch dazu, dass immer andere Schauspieler ihn spielen. Natürlich, in der Kindheit sind es andere als im Alter. Das sind ja doch immer Episoden, wo Sie dann fiktional eingreifen in eine Biografie. Sie haben ja gesagt, Sie müssen ja auch Dinge machen. Spannend fand ich ja, dass die Reaktionen von Soliman ja auch von Ihnen kommen müssen. Wir wissen ja nicht, wie sich das Kind verhalten hat, als man dann angefangen hat, ihm Flötenspiel beizubringen oder als, ganz besonders schockierend die Szene, der Kaiser ihm einen anderen Schwarzen gegenübersitzt und sagt, ihr habt euch ja viel zu erzählen, und dann sitzen die beiden und sagen sich nichts. Wie haben Sie das entwickelt, weil Sie müssen die Fiktion ja quasi in die geschichtliche Figur hineinarbeiten?
Schleinzer: Ich habe versucht, das alles, was ich in irgendeiner Form empirisch wirklich beweisen kann ... Empirisch beweisen kannst du, dass er Schriftführer bei den Freimaurern war. Die angebliche Freundschaft mit dem Herrn Mozart lässt sich nicht belegen.
Empirisch belegen kann man, dass er zumindest einmal auf Josef II. getroffen ist, ob er aber, wie auf diversen Onlineplattformen steht, er sehr oft und ausgiebig mit dem Kaiser auch Schach gespielt hat, auch das kann man nicht belegen. Auch die sechs Sprachen, die ihm dauernd nachgetragen werden, ich finde sie nirgendwo. Klar hat der Mensch mindestens vier Sprachen gesprochen. Die Sprachen, die ihn umgeben haben. Wenn man dann sagt, man spricht oder reflektiert die Sprachen, von denen man umgeben ist, kann man auch nicht von einer großen Sprachgewandtheit ausgehen, die ihm auch immer wieder so nachgetragen wird.
Ich möchte ihn nicht schmälern, aber das, was mir so absurd erscheint, ist auch diese große Sehnsucht, ihn zu idealisieren. Ich kann auch verstehen, woher das kommt. In Wien ist die black community sehr klein, das sind gerade mal 40.000 Menschen, und wenn du in Wien ein Schwarzer bist und auf der Straße gehst, ist angeschaut zu werden und noch das Gefühl zu bekommen, noch nicht so sehr hier im Stadtbild und in der Gesellschaft angekommen zu sein, ein tägliches Gefühl.
Das habe ich erlebt, als ich mich zum ersten Mal mit den Eltern der Kinder getroffen habe, die ich für diesen Film gecastet habe und wir dann in einem zufälligen Lokal uns getroffen haben. Wir kannten beide das Lokal vorher nicht, weder die Eltern noch ich, und dann war das eher ein Lokal, wo jetzt eher so ein anderes Publikum verkehrt, das auch eine sehr deutliche Wählerrichtung hat.
Wir waren natürlich die Fremdkörper in diesem Lokal, und es wurde geschaut, es wurde auch gestänkert. Das hat mich sehr berührt, dass die Mutter von dem Kenny, der dann auch die Rolle des jungen Angelo gespielt hat, sehr schmale Schultern bekommen hat und versucht hat, unsichtbar zu werden, im Gegensatz zu mir, der dann gleich mit diesen Menschen da diskutieren wollte, darum gebeten hat, dass man nicht spricht. Der Blick auf diese Menschen und Aggression ausgesetzt zu sein ist mitunter noch an der Tagesordnung.
Aber zurück zur eigentlichen Frage: Ich bin so ein Quatscher. Ich habe versucht, das alles, was ich empirisch recherchieren konnte, wie zum Beispiel die Eheschließung mit einer weißen Frau, die heimlich stattgefunden hat, die Geburt der eigenen Tochter, dass all dies auf jeden Fall in dem Film vorkommt. Den Herrn Soliman kann man allerdings erst recherchieren ab seinem Mitte vierzigsten Lebensjahr. Davor ist er inexistent.
Insofern habe ich für den Beginn und auch die erste Hälfte des Filmes aus verwandten und ähnlichen Schicksalen, die sich recherchieren haben lassen, mich bedient, denn es war mir eigentlich auch klar, dass wenn du als Hofmohr hier beschäftigt wirst, der Weg immer ein ähnlicher sein wird. Du wirst hierher gebracht, du wirst gewandet, du wirst erzogen, du wirst getauft, christianisiert, das ist also dieser Weg, wo man diesen Menschen quasi unsere Werte aufoktroyiert hat, auferlegt hat, um ihn zu einem großen guten Christenmenschen zu machen.

Einen Film historisch richtig machen

Wellinski: Sie haben schon häufiger gesagt, dass es Ihnen auch darum geht, den Blick auf diese Figur neu zu justieren, nenne ich es einfach mal. Das ist im Kino natürlich immer so, dass Sie mit der Kamera uns, den Zuschauer, führen, unseren Blick führen. Das bringt mich zur Form des Films. Es ist ja ein Historienfilm. Ich würde sagen, sogar ein Historienfilm französischer Tradition. Also Sie drehen bei Kerzenlicht, die Kostüme sind jetzt nicht so ausgestellt wie in einer Modenschau, wie im amerikanischen Historienkino üblich, und gleichzeitig arbeiten Sie auch mit Anachronismen. Das heißt, da gibt es einen Raum, in dem es plötzlich eine Lampe gibt und Steckdosen, und trotzdem sind wir da noch in der Zeit von Angelo Soliman, als würden Sie den Historienfilm oder die Codes des Historienfilms ja, was eigentlich, kritisieren, auslachen?
Schleinzer: Nein. Vielleicht eher auslachen, aber so habe ich nicht drüber nachgedacht. Ich glaube einfach nicht daran, dass es möglich ist, einen historischen Film historisch richtig zu machen, denn die Zeit, in der der Film spielt, so weit zurückliegt. Ich war 17 Jahre lang Castingdirector und habe auch sehr eng mit dem Michael Haneke zusammengearbeitet und habe "Das weiße Band" betreut, und da war es gerade noch möglich, das zu erzeugen, weil der Film spielt 1913, 1914, und da gab es die Architektur noch. Als es dann darum ging, quasi diese Menschen zu finden, die dann in den Nebenrollen diese Dorfbelegschaft darstellen sollten, da bin ich dann schon nach Rumänien gefahren und nach Moldau, um dort Menschen irgendwie hierher nach Deutschland zu karren, wo wir den Film auch gedreht haben, weil dort in Rumänien und Moldau auf dem Land das Gesundheitssystem noch so ist wie bei uns – und das werte ich jetzt nicht – vor 70, 80 Jahren.
Da findest du Menschen, die seit ihrem 35., 40. Lebensjahr keine Zähne mehr im Mund haben und dadurch den Muskelschwund haben und den Kieferschwund haben. Dort finde ich Menschen, die so aussehen wie meine Urgroßeltern auf alten Schwarzweißfotografien. Hier findest du das nicht mehr. Das ist aber jetzt mal ein Jahrhundert zurückgegangen. Jetzt haben wir hier einen Film, der spielt vor 300 Jahren. Es ist schier unmöglich, das wirklich richtig zu machen. Als ich angefangen habe zu recherchieren, haben mir die Leute immer gesagt, ah, du musst dir "Barry Lyndon" anschauen, das ist das beste Beispiel für den perfekten historischen Film.

Schöne, weiße Zähne in Hollywood-Kostümfilmen

Wellinski: Kerzenlicht!
Schleinzer: Ich habe mir "Barry Lyndon" angeschaut, und ich sehe nur die 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts an den Haaren, an den Kostümen, an den Farben, an den Stoffen. Also ich glaube, das ist alles Mumpitz. Natürlich kann man das probieren, natürlich kann man seine Oberfläche schaffen, und dann haben alle so schöne weiße Zähne und in jedem Bild ein neues Kostüm, und das sind dann diese Historienfilme, wo dann meistens Keira Knightley mitspielt. Das ist ja Entertainment. Das bildet Historie ja auch nicht wirklich ab. Warum mal so etwas passieren, wenn man nur scheitern kann.
Abgesehen davon denke ich, diesen Stoff jetzt rein in die Vergangenheit zu verabschieden, macht ihn mir in der Gegenwart kleiner, und ich finde, dass dieser Stoff absolut noch etwas mit der Gegenwart zu tun hat und dass man ihn gegenwärtig sehr stark diskutieren kann auf vielen Ebenen. Ich habe in der Recherche mit den Ohren geschlackert, wo man mir in irgendwelchen Museen dann irgendwann einmal doch gezeigt hat, ich soll heimlich mitkommen, und dann hat man die Schränke geöffnet, und da standen dann auch noch Menschenpräparate in irgendwelchen den Schränken rum. Auf die Frage, warum man die nicht zurückschickt, kommt dann gerne oft die Antwort, man weiß nicht, wohin oder auch die große Angst vor der Restitution, weil wenn man beginnt, eine Sache zu restituieren, geht dann bald wieder die Diskussion los, ob die Nofretete tatsächlich auch hier in Berlin im Museum stehen darf, was ja alle zehn Jahre heiß diskutiert wird.
Es gibt viele Dinge, die einfach bedacht werden müssen. Mir geht es immer sehr selten um die Schuld. Schuld finde ich was Zweitrangiges. Mir geht es primär um die Verantwortung und darum, dass man ein Bewusstsein hat dafür, was es hat, weil jemand, der über seine Vergangenheit kein Bewusstsein hat, der kann auch selten eine Gegenwart haben, und vor allem kann der nicht aktiv an einer Zukunft mitgestalten. Deswegen sind die Filme, die ich gerne machen möchte und die Filme, die ich gerne sehe, Filme, die in irgendeiner Form Bewusstsein schaffen und Bewusstheit und nicht unbedingt jetzt bürgernahe Bildung, "Die Sendung mit der Maus", sowas irgendwie, vor 300 Jahren.

Die Menschen, die jetzt kommen, passen uns nicht mehr

Wellinski: Dadurch erzeugen Sie in Ihrem Film immer wieder Rückgriffe auf die Gegenwart. Allein schon der Beginn, die erste Szene sollte, glaube ich, jeden umhauen, weil sie so einen gewissen Zynismus unserer Zeit entlarvt. Also wir sehen ein Boot an einem Strand, Sklaven kommen dort an, also Sie sagen, es gab mal eine Zeit, in der es Boote gab, die von Afrika nach Europa kamen, die Menschen, die damit transportiert worden sind, wurden – in Anführungsstrichen – sehnsüchtig erwartet, weil man sie weiterverkaufen wollte, und jetzt, 300 Jahre später, kommen immer noch Boote von Afrika nach Europa mit Menschen drin, doch wir tun alles, damit sie nicht ankommen.
Schleinzer: Das ist natürlich unfreiwillig komisch, wenn man es so ausdrücken möchte. Als ich das Buch geschrieben habe, war Europa gerade noch nicht so in dieser Thematik drin. Das liegt fünf Jahre zurück. Österreich ist natürlich ein Land, das diese Probleme nicht kennt, weil wir keine Außengrenzen haben mit Wasser. Wir waren eine Insel der Seligen, und dann vor drei, vier Jahren ging das los, und dann natürlich das Geschrei groß, und dürfen die das, und warum bleiben die und so weiter und so fort. Aber ja, es gab eine Zeit, da haben wir sie hierher verschleppt, und jetzt, wo sie von selber kommen wollen, da sind sie uns nicht mehr zupass. Da muss Europa sich nur ganz genau anschauen seine Verantwortung, weil die schönen herrlichen Schlösser, die wir da überall stehen haben in Frankreich und Italien und Spanien und Österreich und Deutschland, die sind ganz sicher nicht mit unserem eigenen Material, unserem eigenen Geld gebaut worden aus dieser Barockzeit.
Natürlich sind das alles Dinge, die wir da irgendwie diesen Menschen dort abgepresst haben, sonst hätte Europa doch nie zu diesem enormen Aufstieg und zu diesem enormen Reichtum kommen können. Da gilt es jetzt einfach, eine Verantwortung zu entwickeln, da geht es einfach, darüber laut nachzudenken, was man in der Vergangenheit schon hätte tun können, um diesen Kontinent, der ja kein Land ist, sondern ein Kontinent mit unterschiedlichen Kulturen, mit sehr vielen unterschiedlichen Sprachen, Situationen, Religionen, auch Probleme. Nicht ganz Afrika ist ein Armenhaus. Auch das müssen wir uns abschminken, aber trotzdem müssen wir mal drüber nachdenken und uns Gedanken machen, wie man in der Verantwortung, die Europa hat, auch dazu beitragen kann, dass dieser Kontinent so stabil wird, dass die Leute einfach nicht mehr kommen müssen und nicht mehr vertrieben werden.
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