Regisseur Lav Diaz

Kann es je Gerechtigkeit geben?

Der thailändische Filmregisseur Lav Diaz
Der thailändische Filmregisseur Lav Diaz © Deutschlandradio / Annette Bräunlein
Lav Diaz im Gespräch mit Patrick Wellinski · 10.09.2016
Mit "The Woman who left" hat Lav Diaz einen Film über das Schicksal einer Frau gedreht, die 30 Jahre unschuldig im Gefängnis saß und sich nach ihrer Entlassung rächen möchte. Wir sprachen mit dem philippinischen Regisseur darüber, ob es je Gerechtigkeit geben kann.
Im Februar, während der Berlinale in Berlin, war der philippinische Regisseur Lav Diaz in aller Munde, weil er mit acht Stunden den längsten Wettbewerbsfilm der Festivalgeschichte präsentiert hatte.
In Venedig hat er seinen neuen Film gezeigt. Mit knapp vier Stunden fast schon ein Kurzfilm. Der Film heißt "The Woman who left" und zeigt das Schicksal einer Frau, die 30 Jahre unschuldig im Gefängnis saß und sich nach ihrer Entlassung rächen möchte.
Mit uns sprach Lav Diaz über das schicksalhafte Jahr 1997, seine Leidenschaft für Leo Tolstoi und die Frage: Kann es Gerechtigkeit geben?

Das Interview im Wortlaut:
Patrick Wellinski: Lav Diaz, Ihr neuer Film "The Woman who left" basiert auf einer Kurzgeschichte von Leo Tolstoi – Was ist das für ein Stoff und warum hat er Sie zu Ihrem neuen Film inspiriert?
Lav Diaz: Ja, genau – es geht um Tolstois "Gott sieht die Wahrheit, sagt sie aber nicht sogleich". Ich liebe diese Geschichte. Sie ist gleichzeitig komplex und verfügt über einen sehr humanistischen Kern. Ich habe die Geschichte zum ersten Mal in der Hochschule gelesen. Und ich kann mich bis heute nur an die Prämisse erinnern. Ein Mann sitze unschuldig im Gefängnis. Es geht ums Leiden und das Trauma eines Lebens.
Patrick Wellinski: Sie verorten Ihre Handlung über eine Frau, die 30 Jahre unschuldig im Gefängnis saß, Ende der 1990er-Jahre auf den Philippinen. 1997 um genau zu sein. Warum gerade 1997?
Lav Diaz: 1997 ist eine sehr komplexe und dunkle Zeit in der philippinischen Geschichte. Sie war geprägt von einer unfassbaren Gewalt. Mord, Totschlag und Entführungen waren an der Tagesordnung. Die Philippinnen wurden damals zum Zentrum der gewalttätigen Entführungen in Asien. Aber auch sonst war das eine sehr turbulente Zeit auf der Welt. Die Gewalt und die Kriminalität. Es gab ja auch den Mord an Versace durch einen Filipino, dann starben Prinzessin Diana, und Mutter Teresa, und schließlich wurde die Kronkolonie Hongkong an die Chinesen übergeben. Sie merken: Es war eine sehr verschachtelte Zeit, ein Kontinuum, in dem alles miteinander verbunden schien.

Schreiben, um nicht wahnsinnig zu werden

Patrick Wellinski: Horacia ist eine sehr komplexe Figur. Als sie aus dem Gefängnis kommt, ist sie sehr hilfsbereit, aufopfernd, teilt ihr Geld – aber nachts streift sie wie ein Schattenwesen durch das Dorf. Führt sie ein Doppelleben?
Lav Diaz: Ja, aber sie führt auch ein Dreifach- und Vierfach-Leben. Das soll die Komplexität dieser angelegten Figur unterstreichen. Sie versucht ja, viele Personen auf einmal zu sein. Die Witwe, die Mutter, aber eben auch der Racheengel, der sich an dem Mann rächen will, der sie ins Gefängnis brachte, der ihre Familie zerstörte. Diese ganzen Dualitäten und Widersprüche wollte ich damit fassen. Aber es ist auch ein Bild für ihren Leidensweg. Diese Qualen, die diese Frau 30 Jahre lang im Gefängnis erleiden musste, das ist Teil ihres Weges, den sie gehen muss. Das bekommt dann auch etwas Buddhistisches.
Patrick Wellinski: Horacia ist ja – wie Sie – eine Geschichtenerzählerin. In den stillen Momenten des Films erzählt sie. Ganz ausführlich, verinnerlicht. Woher kommen diese Geschichten? Haben Sie sie geschrieben?
Lav Diaz: Ja, es sind meine Kurzgeschichten. Und es gehört auch zu der Figur. Sie ist ja Lehrerin – und gute Lehrer, das sind auch immer gute Geschichtenerzähler. Aber Horacia muss das auch machen, weil sie so lange weggesperrt war. Durch das Schreiben entwickelt sie alternative Welten. Welten, in denen sie frei ist und eben nicht hinter Gittern. Sie schreibt, um nicht wahnsinnig zu werden. Es ist wie in diesem Hollywoodfilm "Inception" – das Erschaffen alternativer Welten als Fluchtmöglichkeit.
Patrick Wellinski: Es gibt eine sehr starke Szene, in der Horacias Ex-Freund, mit einem Priester spricht, ihm seine Sünden beichtet, und der ihm recht schnell ihm eine Absolution erteilt. Die katholische Kirche ist also nicht besser als die Verbrecher, die sie besuchen?
Lav Diaz: Auch das ist so eine Dualität, auf die ich hinaus will. Die katholische Kirche zwingt den Philippinen seit vielen Jahren ihre Weltsicht und ihre Moral auf. 85 Prozent von uns sind katholisch. Doch man sollte nicht vergessen, dass wir missioniert wurden. Und damit kam auch diese katholische Perspektive auf die Dinge des Lebens zu uns. Es geht da ja immer um Schuld und Vergebung. Das zeige ich in der Szene. Worum es der Kirche aber nie geht: Das ist Gerechtigkeit. Du kannst beichten, dir wird vergeben, aber es wird keine Gerechtigkeit eingefordert. Man macht es sich sehr leicht. Leiden und Opferbereitschaft haben noch keine Probleme gelöst.
Die philippinische Schauspielerin Charo Santos-Concio während des Photocalls für "Ang Babaeng Humayo" (The Woman Who Left) beim 73. Internationalen Filmfestival in Venedig
Wie Lav Diaz es schaffte, mit der legendären philippinischen Schauspielerin Charo Santos zu drehen, verrät der Regisseur im Interview.© picture alliance / dpa / Claudio Onorati
Patrick Wellinski: Ihr Projekt hat auch schon im Vorhinein für Schlagzeilen in Ihrer Heimat gesorgt, weil sie es geschafft haben, mit Charo Santos zu drehen, einer legendären Schauspielerin, die lange nicht mehr vor der Kamera stand. Wie haben Sie sie wieder vor die Kamera geholt?
Lav Diaz: Ja, sie war viele Jahre Leiterin eines der größten Medienunternehmen in Südost-Asien. Da war es ihr lange Zeit nicht mehr möglich zu spielen. Ich traf sie im Februar während der Berlinale, wo mein letzter Film "A Lullaby for a sorrowful Mystery" gezeigt wurde. Und sie fragte mich, was ich denn als nächste vor hätte. Und ich erzählte ihr von diesem Projekt. Und dann hat sie aus dem Nichts zugesagt. Ich hatte damit nicht gerechnet. Und dann begannen auch schon die Dreharbeiten im Mai. Ich kann es irgendwie immer noch kaum glauben…
Patrick Wellinski: Erneut arbeiten Sie ohne Close-Ups, die Figuren sind weit im Raum, in den vielen Nachtszenen, sehen wir sie kaum. Warum vermeiden Sie das Mittel der Naheinstellung?

"Jeder Close-Up ist ein Eingriff und Manipulation"

Lav Diaz: Das ist meine Methode, meine Praxis. Ich möchte so wenig wie möglich in das Bild eingreifen. Und jeder Close-Up ist ein Eingriff und Manipulation. Ich sehe mich eher als Beobachter. So ist doch auch die Realität; keine Täuschung, kein Betrug.
Patrick Wellinski: Das erinnert ein bisschen auch an den Stummfilm. Ist das ein Referenzrahmen für Sie?
Lav Diaz: Ja, ich liebe den Stummfilm. Insbesondere der deutsche Expressionismus hat es mir angetan. Davon sind meine Filme schon stark beeinflusst. Dieser, aber besonders mein letzter Film "Sorrowful Mystery".
Patrick Wellinski: Letzte Frage, Herr Diaz. Dieser Film wirkt für Ihre Verhältnisse fast schon wie ein Action- und Genrefilm. Sie zeigen eine Waffe und wir wissen, diese Waffe wird benutzt werden. Haben Sie bewusst mit Genre-Elemente arbeiten wollen?
Lav Diaz: Ja, sie können ruhig sagen, dass dies ein Film Noir ist. Warum nicht? Es ist aber auch ein Rachedrama, wie man sie aus Hollywood zum Teil kennt. Ich liebe diese Filme und ich wollte viele dieser Genreelemente reinbringen: Also den die Spannung, das Geheimnis. Die Ideen stürzen auf mich herein. Oh ja, das könnte ich machen… und das auch... (lacht).
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