Regina Porter: "Die Reisenden"

Verwobene Lebenswege

04:46 Minuten
Buchcover von "Die Reisenden" vor orangefarbenem Aquarellhintergrund.
"Die Reisenden" ist Ende Januar beim Fischer Verlag erschienen. © S. Fischer Verlag / Deutschlandradio
Von Sonja Hartl · 05.02.2020
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"Die Reisenden" ist ein Familienepos. Regina Porter verquickt die Geschichten zweier Familien, einer schwarzen und einer weißen, in den USA. Beide steigen gesellschaftlich auf, doch der afroamerikanischen wird es dabei sehr viel schwerer gemacht.
Ganz am Anfang von Regina Porters "Die Reisenden" fragt der vierjährige Jimmy Vincent Junior seinen Vater, warum Menschen eigentlich schlafen. Die Antwort: "Damit Gott den ganzen verfickten Scheiß wieder richten kann, den die Menschen verfickt haben". Viele Jahre später wird Jimmy Vincent Junior, der sich mittlerweile James nennt, von seinem Enkelsohn dieselbe Frage gestellt bekommen. Doch er wird antworten, dass niemand weiß, warum Menschen schlafen müssen.
Seine Antwort mag kindgerechter sein, aber sie spiegelt auch die durchgängige Gleichgültigkeit wider, mit der James durch sein Leben geht. Von seinem Vater hat er die Verbitterung und das promiskuitive Verhalten übernommen, wenngleich er als Absolvent der Columbia Law School seine Frau kultivierter betrügt als seine Mutter betrogen wurde. Auf den Vorwurf, er habe mit einer Frau an der Privatschule seines Sohnes Ruff geschlafen, erwidert er, er würde seine "Notdurft" nicht dort verrichten, wo Ruff zur Schule geht. Diese verbitterte Grundhaltung dem Leben gegenüber hat James auch an Ruff weitergegeben. Sie hat sich weiter abgeschliffen, ist aber immer noch da.

Lebenswege kreuzen sich auf vielfältigste Weise

Die Vincents aus Maine sind eine weiße Familie in Regina Porters "Die Reisenden", die andere Familie sind die afroamerikanischen Christies aus Georgia. Ihre Lebenswege kreuzen sich im Verlauf immer wieder auf vielfältigste Weise, direkt aber durch die Ehe von Joyce-Forscher Ruff Vincent und Shakespeare-Forscherin Claudia Christie. Dabei ist Porters Buch kein Familienroman, der chronologisch die jeweilige Familiengeschichte aufschlüsseln würde und dann in einer Ehe kulminieren lässt. Vielmehr erzählt Porter in 21 Kapiteln von diesen Familien in den Jahren 1946 bis in 2010, indem sie Ausschnitte, Zusammentreffen und Lebensgeschichte von 34 Personen aufführt, die mit dieser Familie verwandt, verschwägert oder verbandelt sind.
Manche Teile umfassen lediglich zwei Seiten, zum Beispiel einen fiktiven Theaterdialog, den sich Claudias Nichte Minerva ausgedacht hat. Andere wiederum umreißen die Lebensgeschichte von James zweiter Ehefrau von 1950 bis 1990 oder erzählen das Leben von Eloise Delaney, der ersten Geliebten von Claudias Mutter Agnes, in zwei Teilen von 1947 bis 1968 und dann 1970 bis 2010. Den Überblick erleichtern Jahreszahlen zu Beginn eines jeden Kapitels, außerdem gibt es am Ende des Buches ein Personenverzeichnis.

Erfahrungen von Klassenaufstieg und Rassismus

Diese Struktur erlaubt es Regina Porter, von unzähligen Leben zu erzählen - und manche sind sehr eindrücklich. Beispielsweise ist Eloise Delaney eine lesbische afroamerikanische Frau in Georgia in den 1960er Jahren, die zur Army geht, im Vietnamkrieg als Analystin eingesetzt wird und schließlich nach West-Berlin zieht. Hier verbindet Porter eine außergewöhnliche Biografie mit Zeitbildern. Indem sie von der weißen Familie Vincent und der afroamerikanischen Familie Christie schreibt, erzählt sie von Rassismuserfahrungen. Dabei sind beide Familien Klassenaufsteiger. Doch es ist für die Vincents viel einfacher. Der Weiße Ruff Vincent merkt an einer Stelle an, dass ihm erst durch die Ehe mit der Afroamerikanerin Claudia aufgefallen ist, wie viele Privilegien er hat.

Wechselnde Erzählperspektiven

Diese Themen finden nahezu selbstverständlich ihren Platz in dem Roman, in dem Theaterregisseurin Porter mit verschiedensten stilistischen Mitteln arbeitet. Es gibt Briefwechsel, Fotos sind in dem Text eingebunden, allerhand Shakespeare-Verweise eingearbeitet. Die Erzählperspektiven wechseln, der Erzählton indes bleibt lakonisch, oftmals fast nüchtern. Überwiegend passt das sehr gut zu den Figuren, gerade am Anfang, als Agnes Miller - Claudias Mutter - von einem weißen Polizisten in Georgia vergewaltigt wird und sich im Anschluss die Liebe zu dem Mann versagt, der sie an dem Abend begleitet hat. Bisweilen bildet er einen starken Kontrast, wenn Agnes von ihrem Ehemann krankenhausreif geschlagen wird. Nur in den wenigen Kapiteln, die aus der Ich-Perspektive geschildert sind, geht er nicht immer auf.
Regina Porters Roman ist wie eine Reise, auf der man niemals genau weiß, was als nächstes passiert und wen man als nächstes wiedertrifft. Nicht alle Stationen sind gleichermaßen gut, nicht alle Figuren gleichermaßen faszinierend. Aber es ist eine Reise, die viel Interessantes zu bieten hat – und auf die man sich gerne einlässt.

Regina Porter: Die Reisenden
Aus dem Amerikanischen Englisch von Tanja Handels
S.Fischer, Frankfurt/Main, 2020
384 Seiten, 22 Euro

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