Der Schriftsteller Teju Cole

"Eine Hast, durch die vertraute und fremde Dinge ziehen"

Der Schriftsteller, Essayist und Fotograf Teju Cole vor einer urbanen Kulisse
Der Schriftsteller, Essayist und Fotograf Teju Cole © imago/Leemage
Von Thomas David · 01.06.2018
Teju Cole zählt zu den wichtigsten literarischen Stimmen seiner Generation. Kritiker vergleichen den 1975 geborenen nigerianisch-amerikanischen Schriftsteller bereits mit Naipaul, Sebald und Camus.
"Atrocity is nothing new, not to humans, not to animals. The difference is that in our time it is uniquely well-organized ..."
"Gräueltaten sind nichts Neues, weder für Menschen noch für Tiere. Der Unterschied ist, dass sie heutzutage unvergleichlich viel besser organisiert sind, ausgeführt mit Hilfen von Gehegen, Güterzügen, Verwaltungsbüchern, Stacheldrahtzäunen, Arbeitslagern und Giftgas. Und die jüngste Errungenschaft: The absence of bodies. "
"Die Abwesenheit von Leichen."
"No bodies were visible, except the falling ones, on the day America's ticker stopped."
"Auch am Tag, als Amerikas Börsenschreiber stehen blieben, waren keine toten Körper sichtbar, außer den herabfallenden. (...) Die Abbildungen wären zu erschütternd gewesen."

Vielbeachtetes Debüt

2011 erschien "Open City", der Debütroman des nigerianisch-amerikanischen Schriftstellers, Fotografen und Kunsthistorikers Teju Cole. Darin flaniert der Ich-Erzähler Julius, ein junger Psychiater, ziellos durch Manhattan.
"This was not the first erasure on the site. Before the towers had gone up, there had been a bustling network of little streets traversing this part of town."
Julius spaziert von seiner Wohnung im Stadtviertel Morningside Heights durch die Straßen der Upper West Side bis zum Columbus Circle am südwestlichen Eck des Central Park.
Er geht nach Norden Richtung Harlem. Die Spaziergänge, die der Arzt im Laufe der Wochen und Monate unternimmt, sind ein "Kontrapunkt" zu seinen "geschäftlichen Tagen im Krankenhaus", wie er zu Beginn des im Jahr 2006 spielenden Romans sagt. Julius fährt mit einem Expresszug bis zur Wall Street und geht Richtung Westen.
Er gelangt beinahe zufällig am Ground Zero an, dem wenige Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 noch immer unbegreiflichen blinden Fleck auf der Landkarte von Manhattan. Der omnipräsenten Lücke in der Skyline, die der Betrachter mit seinen Erinnerungen, Ängsten und Projektionen wie eine leere Stelle im Gesichtsfeld schließt.
"Auf diesem Boden waren nicht zum ersten Mal Häuser ausradiert worden."
"Bevor die Türme errichtet worden waren, hatte ein Labyrinth von betriebsamen kleinen Straßen diesen Teil der Stadt durchzogen."
"Robinson Street, Laurens Street, College Place: all of them had been obliterated in the 1960s to make way for the World Trade Center ..."
"Sie alle waren in den Sechzigerjahren dem World Trade Center gewichen und sind heute völlig vergessen."
"Gone, too, was the old Washington Market, the active piers, the fishwives ..."

Ausradiert und erneut beschrieben

Auf seinen Spaziergängen durch Manhattan betrachtet der Ich-Erzähler den Körper der Stadt. Er liest und bezeugt ihr Dasein in verschiedenen Augenblicken.
Die Geschichte der Stadt erscheint ihm wie sich überlagernde Sedimentschichten. Mit den Terroranschlägen am 11. September hat diese Geschichte einen Kulminationspunkt erlebt, der weit in die Zukunft reicht und in dem das ganze Wesen der Stadt gefangen zu sein scheint.
"The Syrians, the Lebanese, and other people from the Levant had been pushed across the river to Brooklyn."
"The site was a palimpsest, as was all the city, written, erased, rewritten."
"Diese Stelle war ein Palimpsest, wie die ganze Stadt, beschrieben, ausradiert, erneut beschrieben. Es hatte hier bereits Siedlungen gegeben, bevor Kolumbus überhaupt lossegelte ..."
"... human beings had lived here, built homes ..."
" ... hier hatten Menschen gelebt, sie hatten Häuser gebaut... "
"Generations rushed through the eye of the needle, and I, one of the still legible crowd ..."
"Generationen rasten durch dieses Nadelöhr, und ich, einer von ihnen, noch nicht ausgelöscht, ging zum Eingang der Subway."
"Ich wollte meinen Faden in diesem Netz der Geschichten finden."
"Open City" markiert den Beginn eines Werks, zu dem inzwischen der Roman "Jeder Tag gehört dem Dieb", die Essaysammlung "Vertraute Dinge, fremde Dinge" und das dieser Tage in deutscher Übersetzung erscheinende Buch "Blinder Fleck" zählen. Cole verbindet hier Texte und eigene Fotos zu einem eindrucksvollen Essay und setzt seine mit "Open City" begonnene Vermessung der Welt fort.

Ein Treffen in Brooklyn

Cole: "Sorry to keep you waiting. They only do construction when you are running late."
Thomas David: "You are not late."
Cole: "Pleasure to meet you."
Thomas David: "Thank you very much for coming."
Cole: "My pleasure. All right."
Als ich Teju Cole im August 2016 in seinem von seiner Assistentin Angela Chen geleiteten Büro in Brooklyn zum ersten Mal begegnete, war er nur kurz auf Durchreise in der Stadt.
Cole: "So you are gonna have a seat over here. I am just going to ... Fortunately, the temperature started going down a bit. Do you live in New York City?"
"Nehmen Sie schon einmal Platz. Ich öffne noch eben ... Zum Glück sinken die Temperaturen ein wenig. Wir hatten einen sehr heißen Sommer."
Cole: "We had a very hot summer. I hope it won’t be too noisy. Should be all right."
Von draußen der Lärm der 36. Straße im Stadtviertel Sunset Park, unmittelbar an der westlichen Spitze des Friedhofs Green-Wood gelegen. An den Wänden des Büros weiße Regale mit Büchern, CDs und Schallplatten, eine gerahmte Weltkarte. Neben Angela Chens Schreibtisch ein großer Ventilator.
Auf einem anderen Tisch Exemplare von Teju Coles Büchern. Ein Exemplar der im April 2016, mehr als ein Jahr vor der englischen Ausgabe erschienenen italienischen Übersetzung von "Blinder Fleck", in die ich kurz hineingeblättert hatte, während ich auf Cole wartete. Fotos aus Bombay, Berlin und Brooklyn, mehr als 150 Fotos aus aller Welt. Dazu kurze, manchmal nur drei oder vier Zeilen lange Texte.
"You can do a lot in life and be completely blind to your own positionality – to where you are and who you are."

Die Grenzen der Wahrnehmung

Im August 2016 war Teju Cole 41 Jahre alt. Er trug eine dunkle Hose, ein dunkelblaues Hemd. Eine große Brille mit starken Gläsern. Er erzählte von der allmählichen Entfaltung seines Werks, der Richtung, die es zu nehmen schien. Von der 2007 in Nigeria erschienenen Urfassung des Romans "Jeder Tag gehört dem Dieb", in dem der namenlose Ich-Erzähler Streifzüge durch das Lagos seiner Kindheit unternimmt. Er erzählte von Julius, dem Ich-Erzähler aus "Open City", der in seiner Beobachtung der ihn umgebenden Welt bis an die Grenzen seiner Wahrnehmung geht, während der Blick auf sich selbst getrübt bleibt, seine vermeintlich klare Selbstreflexion einer Täuschung unterliegt.
"This guy who listens to all this music and does all this travelling and speaks intelligently with all these strangers and has all this insight into aspects of the world."
Man kann im Leben eine ganze Menge machen und dem eigenen Standpunkt gegenüber dennoch vollkommen blind bleiben – gegenüber dem, der man ist. Dafür ist Julius ein Beispiel, dieser Typ, der sich für Musik interessiert, Reisen unternimmt, sich auf intelligente Weise mit all diesen fremden Menschen unterhält und Einblicke in alle möglichen Bereiche der Welt hat. Aber seine Selbstwahrnehmung ist extrem begrenzt.
"And yet, his level of self-awareness is extremely circumscribed and limited."
Julius' Bewusstsein kreist um eine Selbsttäuschung, wie sich am Ende von "Open City" zeigt. In seiner Wahrnehmung existiert jener blinde Fleck, dessen genaue Verortung Teju Cole auch in dem Essayband "Vertraute Dinge, fremde Dinge" nachgeht, wo er nicht nur über seine vorübergehende durch eine Blutung hervorgerufene Erblindung des linken Auges schreibt, die ihn im Frühjahr 2011 auf eine überraschende und ganz konkrete Weise an die Grenzen seiner Sensibilität stoßen lässt, sondern auch über eine Begegnung mit dem alten V. S. Naipaul, der ähnlich wie Julius in "Open City" gegenüber den Verfehlungen seiner Vergangenheit blind zu sein scheint.
"I talk about Naipaul’s limitations and his blindness and some of his cruelties. And again that is a certain level of self-forgetfulness."
"Auch hier handelt es sich um ein Fehlen an Selbsterkenntnis bei jemandem, der ein sehr sensibler Beobachter der Welt ist. Es ist ein Wunder, dass V. S. Naipaul so gut schreiben kann und dennoch eine sehr begrenzte Sicht der Welt zu haben scheint."
"I think on some level you have to be sensitive to the possibility of your woundedness for the work really come out the way it ought to."
Man muss ein Empfinden für die eigene Verletzlichkeit haben, damit sich ein Werk vollständig entfalten kann. Vielleicht sind Julius und V.S. Naipaul nicht einmal Ausnahmen.
"This is a question that I keep coming back to, which is: What if I am like Julius? What if I am like Naipaul?"
"Dies sind Fragen, auf die ich immer wieder zurückkomme: Was, wenn ich selbst wie Julius bin? Was, wenn ich wie Naipaul bin?"
"All I can say is it's a question I ask all the time. Am I a good writer? Am I a good photographer? Do I have a certain master of my craft? Am I improving as a writer? When does the growth end?"
"Bin ich ein guter Schriftsteller? Ein guter Fotograf? Beherrsche ich mein Handwerk? Kann ich als Schriftsteller noch besser werden? Wann endet die Entwicklung?"
"But ultimately in a kind of a Socratic way the best you can do is to say: 'I don't know.' All I know is that I don’t really know myself."
Der nigerianisch-amerikanischer Schriftsteller Teju Cole
Der nigerianisch-amerikanische Schriftsteller Teju Cole© Deutschlandradio / Torben Waleczek
Teju Cole erzählte von den zwischen 2011 und 2015 entstandenen Essays aus "Vertraute Dinge, fremde Dinge", in denen er ähnlich wie Julius in "Open City" die Welt konfrontiert. In denen aus verschiedenen Begegnungen, der Erfahrung von Städten so unterschiedlich wie Lagos und Zürich, der Auseinandersetzung insbesondere mit Literatur und Fotografie ein faszinierendes Zeitbild entsteht, aber auch eine Skizze von Teju Coles intellektueller Autobiographie.
"Das Beste, das man letztlich tun kann, ist, auf sokratische Weise zu sagen: "Ich weiß, dass ich nichts weiß." Alles, was ich weiß, ist, dass ich mich selbst nicht wirklich kenne."
"'Known and Strange Things' could be called 'Open City'. It is about the openness of the terrain and the investigation into the land that one is confronting."
Es gibt einen Faden, der sich durch sein Werk zieht.
"Vertraute Dinge, fremde Dinge" hätte ebenso gut "Open City" heißen können. Das Buch handelt von der Erschließung eines bestimmten Terrains und der Erforschung eines Landes. Die Sensibilität ist dabei so weit geöffnet wie die Blende einer Fotokamera.
"I feel, and this answers your question of the persona of me as an author, is that there’s a consistency between them."
"Auch wenn jedes meiner Bücher einen anderen Erzähler hat und sich in formaler Hinsicht von den anderen unterscheidet, (…) diese Öffnung der Blende ist charakteristisch für alle meine Bücher. Sie haben etwas gemeinsam. Das gilt auch für mein viertes Buch, das im nächsten Jahr in den USA erscheinen wird."
Cole: "Because I have a fourth coming out next year."
Thomas David: "A book of photos I have just had the chance to look at."
Cole: "Photos and texts. Photos and narrative texts. And this person who is behind all of this is somebody who is experiencing the world in a very intense way."

Reisen in mehr als 30 Länder

Die Person hinter all diesen Büchern erlebt die Welt auf eine sehr intensive Weise.
In den Fotos und Texten von "Blinder Fleck" erzählt Teju Cole von seinen insbesondere seit dem internationalen Erfolg von "Open City" unternommenen Reisen in mehr als 30 Länder auf allen Kontinenten.
Er spürt dem nach, was die besuchten Orte miteinander verbindet: den Erinnerungen an die Lebenden und die Toten, der Kraft universeller menschlicher Erfahrung, der alle kulturellen und politischen Grenzen überwindenden Kraft der Kunst.
"Maybe a bit romantic because the sublime is extremely important to everything I do. But the key experiences, experiencing the world as epiphany and as horror."
"Vielleicht auf eine etwas romantische Weise, denn der Begriff des Erhabenen ist für alles, was ich tue, von großer Bedeutung: Schlüsselerlebnisse wie die Erfahrungen von Göttlichkeit und Horror. Die Vorstellung, dass das Terrain, auf dem man sich bewegt, mit Blut getränkt ist, ist meinen bisherigen Büchern gemeinsam."
"And yet, in the middle of all of this blood-soaked terrain, the fundamental feeling is that the world is a marvelous place."
"Aber inmitten dieses blutgetränkten Terrains erfasst mich das fundamentale Gefühl, dass die Welt ein herrlicher Ort ist."
Ein Foto in dem Buch hat Teju Cole auf Capri aus dem Fenster seines Zimmers aufgenommen. Es zeigt eine glanzvolle Schiffsparade und erinnert in dem begleitenden Text an die Legionen der Toten, die das Mittelmeer in sich trägt.
"So that I feel like what Seamus Heaney says in his poem ..."
Das Buch zeigt Bilder aus Beirut und Berlin, aus Lagos, Seoul und New York. Bilder aus den urbanen Landschaften unserer Städte. Diese Momentaufnahmen verdichten sich beim Blättern zu einem Bilderatlas unserer weltumspannenden Gegenwart.

Du bist weder hier noch da

Die kurzen, beinahe lyrischen Texte interpretieren seine Fotografien nicht, sondern erweitern sie eher um die Ahnung des Verborgenen, des Erstaunlichen, des Spirituellen. Um das, was selbst dem wachsamsten Auge mitunter entgeht, zumal "selbst im wachsamsten Auge", wie es im Postskriptum heißt, "ein blinder Fleck" existiert. Auch unsere Wahrnehmung erweitert sich dadurch um das Staunen und die Erschütterung im Angesicht der Welt.
"In gewisser Weise empfinde ich, was Seamus Heaney in einem Gedicht beschreibt, das von einer Autofahrt durch das irische County Clare handelt und dem plötzlichen Anblick des Ozeans auf der einen und eines Sees voller Schwäne auf der anderen Seite:
'Useless to think you can park and capture it more thoroughly. You are neither here nor there, you are a hurry through which known and strange things pass.'
Sinnlos zu denken, du parkst und siehst es dir
Genauer an. Du bist weder hier noch da,
Eine Hast, durch die vertraute und fremde Dinge ziehen,
Während es seitlich breit und weich ans Auto schlägt
Und das Herz unvorbereitet trifft und aufweht.
When I am invited to a place it is quite simple. If the person wants me to be there and the terms are not complicated I say yes, and then I show up."
"Wenn ich irgendwohin eingeladen werde und die Modalitäten unkompliziert sind, sage ich zu, und dann komme ich. Aus meiner Sicht ist das einfach."
"For the people organizing, it is like when you are in the Museum of Natural History."

Ein Treffen in Berlin

Am 7. April war Teju Cole auf Durchreise in Berlin, um in der Barenboim-Said Akademie einen Vortrag zu Ehren des 2003 verstorbenen amerikanisch-palästinensischen Literaturwissenschaftlers Edward W. Said zu halten.
"So I feel like that big whale."
"Für die Organisatoren verhält es sich ähnlich wie mit dem Wal, der im Naturkundemuseum ausgestellt ist. Man fragt sich, wie die Leute es geschafft haben, ihn in das Gebäude hineinzubekommen. Ich fühle mich wie dieser große Wal. Es mussten eine Menge E-Mails hin- und hergeschickt werden."
"And finally: here’s the moment. Here I am.
Und schließlich ist der Moment da. Hier bin ich."
Cole trägt ein dunkelblaues Sakko, eine schwarze Hose, einen Schal, den er sich umlegt, während er unter dem Applaus des Publikums ans Rednerpult tritt. Am Nachmittag sind bei der Amokfahrt in Münster zwei Menschen ums Leben gekommen.
"My talk is entitled 'A Quartet for Edward Said'."
Zwei Tage zuvor hat Cole bei einer Veranstaltung in New York über seine Arbeit als Schriftsteller und Fotograf gesprochen. Auf seinem weiteren Programm stehen eine Podiumsdiskussion an der Yale University sowie Veranstaltungen in Bogotá, Toronto und Boston. Anfang Juni eröffnet in Zürich die bereits in Italien und den USA gezeigte Ausstellung mit den Fotos aus dem gerade auf Deutsch erschienen Buch "Blinder Fleck".
"So was it that I wanted to be the next Edward Said myself?"
An dem Abend in der Barenboim-Said Akademie hört Cole in dem sphärischen, von Frank Gehry entworfenen Kammermusiksaal zunächst einer Aufführung von Schönbergs "Ode to Napoleon" zu. Als er dann in seinem Vortrag seiner emotionalen und intellektuellen Verbindung zu Edward Said nachspürt und dessen Interpretation von Beethovens spätem Streichquartett Nr. 15 reflektiert, scheint es mir, als sei Teju Cole geradewegs aus den Fotos und Texten seines neuen Buchs herausgetreten.
"Writing fiction contains an element of self-hypnosis, of flying in the dark."

Hypnotische Erfahrung

Als verspüre er an diesem Abend in Berlin die gleiche Intensität des Augenblicks, die bereits die Lektüre von "Open City" zu einer hypnotischen Erfahrung gemacht hat und auch die in "Blinder Fleck" versammelten Fotografien und Texte auszeichnet.
"The ideal was to be in communication with Said’s intuitions. And through them find our own way through the night."
Als befinde er sich in einem intuitiven Gespräch mit dem toten Edward Said, dessen Werk ihm 2006 beim Schreiben von "Open City" ermutigend den Weg gewiesen hatte. Als sei er in Einklang mit Saids Gedanken und Gefühlen. Es scheint mir, als erfahre Teju Cole angesichts des Schreckens der realen Welt, dem nur wenige Stunden zurückliegenden Anschlag in Münster, in den Klängen von Beethovens beinahe mystisch-religiöser Musik den Trost, der seinem starken Glauben an die versöhnende Kraft der Kunst innewohnt.
[singt] "Daa, dii, daaa, diiii. Daa, diii, daaa."
"And near the end of the movement is an instruction to play with the most intimate emotions …"
"Gegen Ende des [dritten] Satzes gibt es die Anweisung, mit 'innigster Empfindung' zu spielen. In diesen letzten Takten fühlt man beinahe, wie sich die Seele erhebt, um den Körper zu betrachten. Der Choral baut sich nach und nach auf, und es scheint, als würden die prismatischen, farbigen Lichter, die man seit einer Viertelstunde gesehen hat, zu einem blendenden Weiß verschmelzen und dann allmählich verdunkeln. Die Wirkung ist erschütternd."
"Into a glare, into a blinding whiteness and then dim, slowly in intensity. The effect is shattering."

Gedenken an die Bücherverbrennung

Mann: "I see the shelves."
Frau: "Can you see them?"
Frau: "No."
Mann: "See the white shelves?"
Frau: "Ah, right."
Frau: "... fand die große Bücherverbrennung der Nazis statt. Und da hat man, da unten sind leere Bücherregale drin. Als Erinnerung daran, dass auf diesem Platz die Nazis die Bücher verbrannt haben. Ich weiß nicht, ob man's von irgendwo sehen kann."
"I think I am at a certain spot where I am also starting to understand that the sources that I am drawing on, the well I am drinking from, is actually omnipresent in my life."
"Ich glaube, ich befinde mich an einem bestimmten Punkt, an dem ich zu verstehen beginne, dass die Quellen, aus denen ich schöpfe, der Brunnen, aus dem ich trinke, in meinem Leben allgegenwärtig sind."
"Manchmal muss ich nicht einmal danach suchen, die Dinge sind einfach da. Ich meine, ich habe das Hotel, in dem ich diesmal wohne, nicht ausgesucht, und der Bebelplatz, auf dem 1933 die Bücherverbrennung stattfand, liegt draußen direkt vor der Tür. Verstehen Sie, was ich meine?"
"And it is also like a very strong memory of my first visit to Berlin about nineteen years ago."
Am Tag nach seinem Vortrag in der Barenboim-Said Akademie und der eindrucksvollen Aufführung von Beethovens 15. Streichquartett durch das multinationale "Michelangelo String Quartet", sitzt Cole in der Lounge des Hotel de Rome am Bebelplatz und erzählt von seiner Arbeit. Auf dem Tisch vor ihm ein Cappuccino, einige seiner Bücher, ein Exemplar der englischen Ausgabe von "Blinder Fleck". Draußen vor dem Fenster der Bebelplatz, auf dem Touristen aus aller Welt und ein paar einheimische Besucher an der Glasplatte des in den Platz eingelassenen "Denkmals zur Erinnerung an die Bücherverbrennung" stehen, das der israelische Künstler Micha Ullman entworfen hat.
Cole erzählt von seiner Kindheit in Lagos, von der Ahnung drohenden Unheils, die ihn schon im Alter von zehn Jahren ergriffen hatte; von seiner frühen Gewissheit, dass Friede lediglich ein vorübergehender Zustand der Geschichte sei.
"Yeah, you’re right, I think it is there a little bit early. Of course, any kind of precocious child has sort of existentialist intuitions – and then it started to emerge in reading."
"Ja, es stimmt, die Angst vor kommenden Katastrophen hat sich in meinem Fall ein wenig früh bemerkbar gemacht. Aber natürlich hat jedes altkluge Kind derartige existenzielle Ahnungen."
"And I think when I started to write, I think I just realized that I was not going to be an entertainer, that I just had to testify to maybe what had been there all along and find the language to do it."
"Als ich mit dem Schreiben anfing, war mir ziemlich schnell klar, dass es mir nicht um Unterhaltung gehen würde. Dass ich lediglich bezeugen musste, was schon immer da gewesen ist."
"... very intense lived experience where there’s a local and it just opens up into big universal intuitions ..."
"Es geht um diese intensive Art gelebter Erfahrung, in der sich die großen universellen Ahnungen aus dem Lokalen heraus entwickeln. Es geht überhaupt nicht darum, 'wichtig' zu sein, sondern empfänglich."
"I would say in the past year the most important phrase in my life has been a three word phrase in English: In real time."
"Der im vergangenen Jahr für mich wichtigste Ausdruck lautet: In real time, in Echtzeit."

Mit allen Sinnen erleben

Cole erzählt von seinem vollkommenen Vertrauen in die Intuition, mit der er sich durch die Welt bewegt. Von der Intensität der Erfahrung, nach der er in seinen Begegnungen mit der Welt, mit anderen Menschen, mit der Kunst und der Literatur sucht. Er erzählt von der Kraft des mit allen Sinnen, körperlich wie geistig bewusst erlebten Augenblicks, von dem schließlich auch die Fotografien und Texte aus "Blinder Fleck" auf eindringliche Weise Zeugnis ablegen.
"Somebody who picks up this book and is reading it is reading of course something that is published, but at the moment of encounter the power of the work comes in real time."
"Jemand, der dieses Buch liest, liest natürlich etwas, das veröffentlicht wurde. Aber im Moment der Begegnung erlebt er die Kraft des Werkes «in Echtzeit». Man blättert darin in Echtzeit und macht eine Erfahrung."
"I was saddled with strange mental transpositions: that the plane was a coffin, that the city below was a vast graveyard ..."
"But as we broke through the last layer of clouds ..."
"Ich quälte mich mit der Vorstellung, dass das Flugzeug ein Sarg sei und die Stadt dort unten ein endloser Friedhof aus weißen Marmor- und Steinblöcken verschiedener Höhe und Größe."
Teju Cole trinkt seinen Cappuccino, stellt die leere Tasse zurück auf den Tisch und beantwortet ein paar letzte Fragen. Er hat in Berlin diesmal nicht viel Zeit und erzählt von seinem bevorstehenden Rückflug in die USA.
"Then it came to me: I was remembering something I had seen about a year earlier ..."
Nach der Begegnung mit ihm sitze ich noch eine Weile in der Lounge des Hotels und blättere in meinem Exemplar von "Blinder Fleck". Mein Blick bleibt an dem Foto hängen, das Teju Cole während eines Landeanflugs auf New York von der Skyline von Manhattan gemacht hat.
"And in this case it was the real city that seemed to be matching, point for point, my memory of the model."

Als wir die letzten Wolkenschichten durchbrachen

Wolkenschichten und Dunst, gleißendes Abendlicht auf den Fassaden zweier Wolkenkratzer. Die Ahnung der sich ins Gesichtsfeld schiebenden Stadt. Ein faszinierendes, atmosphärisches Foto, das ich schon oft betrachtet habe und das mich doch erst jetzt an eine Stelle aus "Open City" erinnert, in der Coles Erzähler Julius von einem Aufenthalt in Brüssel nach New York zurückkehrt.
"On the day I had seen the Panorama, I had been impressed by the many fine details it presented."
"Als wir die letzten Wolkenschichten durchbrachen und die Stadt etwa dreihundert Meter unter uns in ihrer wahren Gestalt erschien, verwandelte sich der Charakter meiner Unruhe. Plötzlich hatte ich das sichere Gefühl, aus exakt dieser Perspektive schon einmal auf die Stadt geblickt zu haben, allerdings – und das spürte ich mit einer genauso starken Gewissheit – nicht aus einem Flugzeug."
Julius erinnert sich an das detailgenaue Modell von New York City, das er vor einiger Zeit im "Queens Museum of Art" gesehen hat. Eine knappe Million maßstabsgetreuer Bauten, Brücken, Parks und Flüsse.
"The rivulets of roads snaking across a velvety Central Park, the boomerang of the Bronx ..."
"Aber diesmal war es die reale Stadt, die Punkt für Punkt mit dem Modell in meinem Kopf übereinzustimmen schien, auf das ich so lange von einer Rampe hinabgestarrt hatte. Selbst das Abendlicht, das in schrägen Strahlen in die Stadt fiel, erinnerte an die Scheinwerfer im Museum."
"... the elegant beige spire of the Empire Sate Building ..."
"Die vielen feinen Details in diesem Panorama hatten mich damals sehr beeindruckt: [...] das elegante, beigefarbene Zepter des Empire State Building, die weißen Tafeln der Piers in Brooklyn und die beiden grauen Zwillingsblöcke auf der Südspitze von Manhattan, je dreißig Zentimeter hoch, in denen das World Trade Center überdauerte, das in der Realität schon ausradiert worden war."
"... the World Trade Center towers, which, in reality, had already been destroyed."
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