Rafael Chirbes: "Von Zeit zu Zeit"

"Die Literatur als Putzfrau, die das Haus aufräumt"

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Buchcover zu Rafael Chirbes Roman "Von Zeit zu Zeit". Zu sehen ist ein älterer Mann in schwarz-weiß mit Jacke über der Schulter.
© Kunstmann Verlag

Rafael Chirbes

Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz und Carsten Regling

Von Zeit zu Zeit. Tagebücher 1984-2005Kunstmann, München 2022

472 Seiten

34,00 Euro

Von Maike Albath · 23.11.2022
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Das Private ist politisch und außerdem hochinteressant. Rafael Chirbes legt in seinen Tagebüchern schonungslos Zeugnis ab und liefert das Selbstporträt eines Schriftstellers im Kampf um seine Kreativität.
Rafael Chirbes pflegte einen radikalen Wahrheitsbegriff. Dass Literatur genau darauf zielen muss, beherzigte er nicht nur in seinen Romanen, auch im Umgang mit sich selbst war er unerbittlich.
Wie streng dieser großartige Romancier, der die Widersprüche des nachfranquistischen Spaniens wie kaum ein anderer ausleuchtete, mit seinen eigenen Schwächen ins Gericht ging, lässt sich nun aus seinem posthum veröffentlichten Tagebuch "Von Zeit zu Zeit" erschließen.
Die losen Notizen aus verschiedenen Heften, die er selbst noch einmal durchgesehen hat, umfassen die Jahre zwischen 1984 und 2005. Es sind Alltagsbilder, Momentaufnahmen, Eindrücke von Büchern und Filmen, Skizzen eigener Projekte, politische Reflexionen und immer wieder harsche Seelenzergliederungen.
Chirbes, 1949 als Sohn eines Eisenbahners in der Nähe von Valencia geboren und nach dem frühen Tod seines Vaters als Achtjähriger in ein Internat für Waisenkinder verfrachtet, schildert die rauschhafte Madrider "Movida", eine Kulturbewegung in den Achtziger Jahren, mit spektakulären Abstürzen und Exzessen, ebenso wie einsame Tage am Schreibtisch und gesundheitliche Probleme.

Jede Art von Opportunismus ist ihm fremd

Schonungslos legt er seine selbstzerstörerischen Neigungen bloß, wenn er von der erst enthusiastischen und dann fatalen Liebesbeziehung mit François, seinem französischen Freund, erzählt. Als Gründer und Redakteur der kulinarischen Zeitschrift "Sobremesa" kann sich Chirbes mit einigen Diensten pro Monat und regelmäßigen Reisereportagen ein Leben als freier Schriftsteller leisten.
Rafael Chirbes
Präziser Satzbau, schneidendes Urteil: der Autor Rafael Chirbes.© imago / GlobalImagens / imago stock&people
Aber zermürbende Zweifel begleiten die Arbeit an seinem Debütroman "Mimoun", der 1988 herauskommt und auf beachtliche Resonanz stößt. Chirbes, dem jede Art von Opportunismus fremd ist, registriert scharfsinnig die Verlogenheit des Kulturbetriebs. Seine Herkunft vergisst der hochgebildete Schriftsteller nie: Sein Blick auf die Welt ist immer von einem tiefen Ethos durchdrungen. Gleichzeitig sehnt er sich nach öffentlicher Anerkennung.

Präziser Satzbau, schneidendes Urteil

So lapidar und lakonisch Rafael Chirbes‘ Einträge auf den ersten Blick wirken, so präzise ist sein Satzbau und so schneidend sein Urteil. Das gilt für Lektüren ebenso wie für Charakterstudien derjenigen, die ihn umgeben.
Die Schilderung einer Lesereise durch Deutschland lässt die Zumutungen erahnen, denen man in diesem Beruf ausgesetzt ist. Hier stellt Chirbes seine Fähigkeiten als Satiriker unter Beweis. Seine letzten Jahrzehnte verbrachte der 2015 gestorbene Schriftsteller auf dem Land in Beniarbeig bei Alicante.

Existenzielles Verhältnis zur Literatur

Anrührend ist die Schilderung eines Klassentreffens, bei dem er einige seiner früheren Freunde nach 40 Jahren zum ersten Mal wiedersieht. Wie existenziell sein Verhältnis zur Literatur ist, blitzt auf jeder Seite auf: Für Chirbes geht es buchstäblich um Leben und Tod.
Sein Tagebuch endet 2005. Er ist von Ängsten zerrüttet, weil er meint, nichts mehr zustande bringen zu können. Etwas zu schreiben, würde bedeuten, seinem inneren Chaos eine Richtung zu geben: "Die Literatur als Putzfrau, die das Haus aufräumt." Tatsächlich rang er sich doch noch seine bahnbrechenden Romane "Krematorium" und "Am Ufer" ab.
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