Rachid Benzine: "Als ich ihr Balzac vorlas"

Ein Denkmal für Madame Benzine

06:36 Minuten
Buchcover zu Rachid Benzine: "Als ich ihr Balzac vorlas. Die Geschichte meiner Mutter"
Diese Einwanderer-Story berichtet von einem modernen Sklavendasein: "Als ich ihr Balzac vorlas" von Rachid Benzine. © Deutschlandradio / Piper
Von Eva Hepper · 11.05.2021
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1978 kommt der in Marokko geborene Rachid Benzine mit seiner Familie nach Frankreich. Seine Mutter bringt ihn und seine Brüder als Putzfrau über die Runden. Jahrzehnte später blickt der jüngste Sohn zurück auf ihr Leben - liebevoll und überzeugend.
Ihre Söhne hatten ihr versichert, dass sie nur die Abholkarte vorzeigen müsse, dann würde man ihr das Paket ohne weiteres aushändigen. Also geht die aus Marokko stammende Einwanderin – eine Frau mittleren Alters, Analphabetin und der Sprache ihres neuen Heimatlandes kaum mächtig – zur Postfiliale.
Doch dort muss sie erst ein Formular ausfüllen. Eine peinliche Situation, zumal die Schlange hinter ihr drängelt. So gibt die Marokkanerin das Papier zurück und erklärt radebrechend, das Paket gar nicht zu wollen. Zeitlebens wird sie nie mehr eine Poststelle aufsuchen.

Typische Einwandererstory

Die Szene ist eine von vielen Begebenheiten aus dem Leben seiner Mutter, von denen Rachid Benzine in seinem neuen Buch erzählt. Der 1971 im marokkanischen Kénitra geborene Politologe und Islamhistoriker, der als Siebenjähriger mit seiner Familie nach Frankreich kam, verwebt darin die Geschichte seiner Mutter und die seiner Beziehung zu ihr mit einer typischen Einwandererstory.
Das erzählende Sachbuch beginnt am Krankenbett der mittlerweile alten Frau, die der Sohn eigenhändig pflegt. Während er für sie sorgt und aus Balzac vorliest, erinnert sich der Autor an die Anfänge in der neuen Heimat. Er beschreibt, wie "maman" als einfache Berberfrau in den 1950er-Jahren mit Mann und Kindern nach Europa kommt und nach dem Tod des Ehemanns die Familie als Putzfrau über die Runden bringt.

Einblicke in den Mutter-Söhne-Kosmos

Dabei wird der Mutter-Söhne-Kosmos – man lebt zu sechst in einer Zwei-Zimmer-Wohnung – zum Bollwerk gegen die Außenwelt. Atmosphärisch dicht sind etwa die Szenen beschrieben, in denen die Jungen der Mutter Lied-Texte aus einer Fernsehsendung beibringen und so die Samstagabende retten. Und auch zwiespältige Momente, in denen die Kinder lachen über den starken Akzent der Mutter, die sich mit Hilfe von Zeitschriften und Fernsehen kleine Brocken Französisch aneignet, zeichnen sich durch einen liebevollen Blick aus.
Umso härter erscheint der Kontrast zur Alltagswelt, in der sich die herzliche, aber schüchterne Frau schwer zurechtfindet. Die Bewohner der Häuser, in denen sie putzt, nehmen sie ebenso wenig als Menschen wahr wie Passanten, die sie wegen kleiner Missgeschicke maßregeln. Dennoch käme ihr nie in den Sinn, aufzubegehren gegen Lebensumstände, die der Sohn als "modernes Sklavendasein" beschreibt.

Gelungene Melange aus Gefühlen und Politischem

Benzine ist ein guter Beobachter und bekommt sich nach und nach auch selbst in den Blick: als sozialer Aufsteiger, gebildet, lebt er in einer anderen Welt und wird von Gefühlen der Scham und des Verrats an der eigenen Familie bedrängt.
Es ist überzeugend, wie der Autor diese Mélange aus Ereignissen, Gefühlen und politischem Subtext darstellt. Man mag sich allenfalls wundern, dass er sich die Freiheit nimmt, auch fiktive Elemente in die Geschichte einzuführen. Doch macht vielleicht eben diese leichte Verschiebung die Wirklichkeit noch deutlicher.
So ist das liebevolle Denkmal für Madame Benzine quasi nebenbei auch ein kluger Beitrag zur aktuellen Diskussion über Klasse und Herkunft.

Rachid Benzine: "Als ich ihr Balzac vorlas. Die Geschichte meiner Mutter"
Aus dem Französischen von Andreas Jandl
Piper Verlag, München 2021
96 Seiten, 16 Euro

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