"Check your habitus" über Aufstiegsliteratur

Das ewige Gefühl, ein Hochstapler zu sein

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Die Illustration zeigt die Fassade eines grauen Plattenbaus, auf dem der Schatten eines anderen Hochhauses zu sehen ist, auf dem Leute Handstände machen.
Aufgewachsen in der Unterschicht, angekommen im Literaturbetrieb: Das Gefühl, sich zwischen zwei Welten zu bewegen, werden die wenigsten los. © imago / fStopImages / Malte Müller
Daniela Dröscher im Gespräch mit Andrea Gerk · 03.05.2021
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Nur wenige Autorinnen und Autoren, die durch Bildung aufgestiegen sind, schreiben auch darüber. 18 von ihnen hat Daniela Dröscher zu ihrem Online-Projekt "Check your habitus" eingeladen. Es verdeutlicht, wie schambehaftet Herkunft sein kann.
Fremd im eigenen Leben zu sein – von diesem Gefühl erzählen Autorinnen und Autoren, die durch Bildungsaufstieg ihre ursprüngliche gesellschaftliche Klasse hinter sich gelassen haben. In Frankreich zählen dazu etwa Annie Ernaux und Didier Eribon, hierzulande gehören zum Beispiel Christian Baron oder Daniela Dröscher dazu. Dröscher hat vor zwei Jahren das Buch "Zeige deine Klasse" veröffentlicht, in dem sie die Geschichte ihrer sozialen Herkunft erzählt.
Nun hat sie das Thema noch einmal anders aufgegriffen: Beim Online-Projekt "Check your habitus" sind 18 Autorinnen und Autoren dabei. Drei Wochen lang werden hier pro Tag drei kurze Statements und biografische Notizen veröffentlicht. Mit dabei sind unter anderem Heike Geißler, Karosh Taha, Dilek Güngör, Peggy Mädler und Selim Özdogan.
Dröscher habe Kolleginnen und Kollegen eingeladen, von denen sie "wusste – weil ich privat schon häufig mit ihnen über diese Erfahrung gesprochen hatte –, dass sie dazu was zu sagen haben." In ihren Werken hätten sie sich dazu bislang aber noch nicht so häufig geäußert. Genau darum soll es nun auf Dröschers Webseite gehen.

Wenn der eigene Aufstieg irritiert

Unter anderem geht es um Klassismus, Milieu, Ausgrenzung und Privilegien, aber auch um Glaubenssätze, die von den Eltern stammen, oder Irritationen, die mit dem sozialen Aufstieg verbunden sind.
Auf dem Bild ist eine Ansicht aus dem Intro auf der Webseite des Projekts "Check your habitus" zu sehen. Ein Text von Daniela Dröscher, bei dem die einzelnen Worte und Zeilen jeweils mit anderen Worten überschrieben sind.
Die "soziale Grammatik", mit der man aufwachse, werde im Laufe des Lebens überschrieben - und bleibe dennoch: als Spur", sagt Daniela Dröscher.© checkyourhabitus.com
Drei gemeinsame Momente zeichnen die Beiträge aus, sagt Dröscher: Zum einen "dieses Dazwischensein, sich in zwei Sprachen auszukennen, sich zwischen zwei Welten zu bewegen". Auch die Sprache gehöre dazu: "Das Medium des Ausdrucks und der Distinktion, das die Sprache ist, ist nie wirklich selbstverständlich. Die Sprache ist tendenziell eine Wunde."
Zudem werde das Prinzip des Aufstiegs selbst hinterfragt: "Was war das eigentlich oder was ist das für eine Karotte vor der Nase? Gerade, weil der Bildungsaufstieg gar nicht so sehr auf Geld oder Macht abzielt, sondern Bildung ja einen Selbstzweck darstellt."
Auch das Gefühl der Hochstapelei "teilen fast alle", sagt Daniela Dröscher. "Die soziale Grammatik, mit der ich aufwachse, ist sehr prägend. Sie wird im Laufe des Lebens überschrieben, aber als Spur ist sie immer noch da". Die Soziologie nennt das "gespaltenen Habitus" und der "ist prägend. Der ist die Identität."

Viele feministische und postmigrantische Stimmen

Oft sei es in der Literatur und auch der Soziologie so, dass man "als jemand dazwischen als ein Weder-Noch erzählt" werde. Für Dröschner stellt sich die Frage, ob diese Position nicht eher als "ein Sowohl-als-auch zu erzählen" sei: "Sind es nicht doppelte Perspektiven und verschiedenste soziale Welten, in denen Menschen sich bewegen und in denen sie sich auskennen - und ist das nicht ein sehr kostbareres Erfahrungswissen?"
Auffallend an ihrem Projekt sei auch, beschreibt Dröscher, dass sich hier "sehr viel feministischere oder postmigrantischere Stimmen versammeln - anders als in dieser klassischen Aufstiegsliteratur". In dieser großen literarischen Tradition von Jack Londons Romanfigur Martin Eden bis hin zu den Figuren von Stendhal gehe es aber "fast immer um weiße männliche Aufsteigergeschichten".
(abr)
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