Puppentheater in Hamburg

Per Schnellzug durch das 20. Jahrhundert

Szenenbild aus "Die Antiquiertheit" nach Günther Anders am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, in einer Inszenierung von Suse Wächter
Suse Wächter nimmt die Zuschauer mit auf eine Reise durch das vergangene Jahrhundert. © Deutsches Schauspielhaus / Maurice Kohl
Von Alexander Kohlmann · 18.12.2015
Günther Anders als Puppenshow, das ist, was Suse Wächter im Deutschen Schauspielhaus auf die Bühne bringt. Eine rasante Reise durch das 20. Jahrhundert, bei dem man viele bekannte Gesichter trifft.
In der Betonwand klafft ein riesiges Loch, durch das eine überdimensionale Lokomotive gebrochen ist. Jetzt steht sie da, dampfend - und wartet auf neue Ziele. Die Eisenbahn, sie wird in Suse Wächters Inszenierung von Günther Anders' "Antiquiertheit des Menschen" zum Sinnbild für den technologischen Fortschritt. Und zum Startschuss einer Entwicklung, in der sich der Mensch letztendlich selbst zum Auslaufmodell machen wird.
Anders' Text ist ein zweibändiges, starkes Stück Geistesgeschichte, eine wortreiche, pessimistische Analyse des Zustands der Menschheit. Die habe sich selbst in den Rang der Titanen erhoben, glaubte Anders schon 1961. Zu Geschöpfen, die sich mittels Atombombe per Knopfdruck selbst auslöschen können - und auch sonst alles tun, um Grenzen zu überwinden, die sie nicht beherrschen können.
Beeindruckende Bilder- und Klangcollage
In Hamburg hat die Puppenspielerin und Regisseurin Suse Wächter mit dem Dramaturgen Christian Tschirner den Text in eine beeindruckende Bilder und Klang-Collage verwandelt. In der Generalprobe rast der Zug mit Hochgeschwindigkeit durchs 20. Jahrhundert. Mit an Bord ist ein Kinderchor, der sich in eine Gruppe Indianer verwandeln kann - oder in eine Herde Schafe, die vergeblich versucht, das eiserne Ungetüm zu stoppen. Gefahren wird der Fortschritts-Express vom Jahrhundert-Lokführer Aljoscha Stadelmann, der fest daran glaubt,
"...dass eine Lokomotive ihr eigenes Leben führt. Jeder Trottel kann sie heizen, aber fahren, fahren tut sie ganz von alleine".
Reise durch die Vergangenheit
Ein bärtiger Sinnsucher ist das, der mal als Wild-West-Cowboy oder als Patient Sigmund Freuds an jeder Station dieser theatralen Geistesgeschichte kurz aussteigt, sich auf dem Bahnhof umsieht und dort auf Suse Wächters Puppen trifft, die im Kessel der Lok sitzen, aus dem Schornstein gucken - oder aus dem Führerhaus steigen.
"Ich kam zur Welt 1807. Gestorben bin ich in den Siebzigern. Jedenfalls war ich 17, als die Rocket zum ersten Mal von Manchester nach Dingsbums fuhr" - "Nach Liverpool." - "Und als die Eisenbahn dann zu uns nach Amerika kam, war ich die erste, die ein Ticket kaufte."
Suse Wächter geht, in Schwarz gekleidet, die ganze Zeit deutlich sichtbar, mit den künstlichen Wesen eine darstellerische Symbiose ein, weckt die Puppen zum Leben. Beim Zusehen vergisst man den Menschen - und sieht irgendwann nur noch das perfekte künstliche Geschöpf: Mensch-Maschinen, die auf ihrer Reise durch die Vergangenheit bereits eine bedrohliche Zukunft ankündigen. Durch Suse Wächters Mund sprechen sie mit verschiedenen Stimmen zu uns. So treffen wir auf historische Persönlichkeiten wie Charles Darwin oder auf den berühmten Wiener Psychoanalytiker:
"Mein Name ist Freud, Dr. Sigmund Freud. Legen Sie mal das Sitzsackel dahin und machen Sie es sich erstmal bequem!" - "Bequem ist immer gut, habe ich gelernt." - "Sehr gut gelernt. Ja, entspannen Sie sich. Jetzt lassen Sie mal die Luft raus, jetzt wollen wir mal reden. Es geht also um die Scham, ja."
Nur eine Frage der Zeit
Neben den Puppenspielen bricht immer mehr die Gegenwart in diese Geistesgeschichte. Aljoscha Stadelmann wird zum Prototyp eines Menschen, der den Maschinen längst unterlegen ist. Die Smartheit seines Handys weckt Ehrfurcht in ihm.
"Ich meine, da lag es, dieses winzige und zugleich wundervolle Geschöpf. Es lag da in meiner Hand wie ein, ja, wie ein Baby, hochtalentiert und sensibel, ein Baby, mein Baby."
Es ist in Suse Wächters Inszenierung also nur eine Frage der Zeit, bis der Mensch der Überlegenheit seiner Erfindungen, oder in Anders' Worten: seiner eigenen Antiquiertheit, zum Opfer fällt. Vieles ist auf der Probe noch unfertig, nicht jeder Rhythmus stimmt sofort – und die philosophische Essenz ist eine einzige Überforderung - aber eine, die Lust macht auf die Premiere - und auf eine Neuentdeckung von Günther Anders, der auf dieser Probe wie ein brandaktueller Prophet erscheint.
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