Politische Richtungen

Auf der Suche nach dem bürgerlichen Lager

Fahnen im Wind: Ist die CDU noch Heimat des Bürgertums?
Fahnen im Wind: Ist die CDU noch Heimat des Bürgertums? © dpa / picture alliance / Maurizio Gambarini
Von Klaus Pokatzky · 11.03.2015
CDU und FDP werden seit Jahrzehnten als bürgerliches Lager beschrieben - bis heute. Sind SPD und Grüne etwa nicht bürgerlich? Unser Autor Klaus Pokatzky ist anderer Meinung.
Die Flüchtlinge kamen in Massen, die Regierung hatte sie eingeladen. Und die alteingesessenen Bürger waren nun höchst besorgt. Es sind Fälle bekannt, wo sie Feuer bei den ungeliebten Zuwanderern legten und ihnen Steine in die Fenster warfen. Doch trotz aller Anfeindungen durch das eingeborene bürgerliche Lager prägten die Migranten immer mehr das Bild der Städte. In Berlin stellten sie schon rasch ein Drittel der Einwohner. Von Generation zu Generation stiegen sie nun selber in das Bürgertum auf und zogen in das bürgerliche Lager ein – Preußen wäre ohne sie nicht Preußen geworden: ohne die Hugenotten. Heute kommen wieder Flüchtlinge und Bürger sind besorgt. Auch gezündelt wird, Gottseidank meistens nur mit Worten.
Wem Angela Merkel zu sozialdemokratisch ist, der wirft ihr gerne vor, dass sie die "Spaltung und Schwächung des bürgerlichen Lagers"betreibe, wie etwa der CSU-Politiker und frühere Bundesminister Hans-Peter Friedrich. Und an Wahlabenden rechnen Journalisten und Politikwissenschaftler emsig die Stimmen von Union und FDP – und am besten auch noch von der AfD – zu einem "bürgerlichen Lager" zusammen.
Die hanseatisch-bürgerlichen Wurzeln der SPD
Ich wüsste gerne mal, wo dieses Lager im Jahre 2015 ist. Haben all diese Leute die letzten 40 Jahre verschlafen? Auf welchem Planeten haben sie gelebt? Sind Kommentatoren und Wahlforscher noch ernst zu nehmen, für die Sozialdemokraten und die Grünen keine bürgerlichen Parteien sind?
Die SPD etwa eines Peer Steinbrück aus altem hanseatischen Bürgertum – Danzig, Stettin, Hamburg – verschwägert mit der berühmten Bürgerfamilie Delbrück, aus der etliche Theologen und einst Bismarcks rechte Hand, Kanzleramts-Präsident Rudolph von Delbrück, hervorging. Das war die Zeit, Mitte des vorletzten Jahrhunderts, als der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl schon den schönen Satz formulierte: "Unsere ganze Zeit trägt einen bürgerlichen Charakter." Zu Hunderttausenden sind in den 70er-Jahren die Wähler von der bürgerlichen Union zu den immer bürgerlicheren Sozialdemokraten übergewandert, haben sich dann zu einem beträchtlichen Teil bei den Grünen niedergelassen und deren Kinder und Enkel haben sich ihr eigenes ökologisches Bürgertum kreiert – wobei das im schwäbischen Tübingen oder im preußisch-berlinischen Prenzlauer Berg gelegentlich schon sehr an die Spießerzüge der alten Vormerkelschen Union erinnert.
Und was ist mit all den Angestelltentöchtern und Arbeitersöhnen – die durch unsere Universitäten wanderten, den sozialdemokratischen Bildungsreformen der 60er zu Segen und Fluch; nun als Oberstudienräte und Zahnärzte arbeiten, als Rechtsanwälte und Pfarrer, und mit den Grünen und den Sozialdemokraten liebäugeln? Und nach Meinung von bestimmten wahlabendlichen Journalisten und Politikwissenschaftlern alles sind: nur keine Bürger.
Bildung ist kein Monopol der Akademiker mehr
Der Bankkaufmannssohn Kurt Tucholsky hatte schon 1920 festgestellt: "Das bürgerliche Zeitalter ist dahin, was jetzt kommt, weiß niemand." Doch, heute wissen wir's. Leider. Das Bürgertum hat sich – von den Emigranten und Ermordeten abgesehen – fast flächendenkend dem Nationalsozialismus hingegeben und damit "einen Totalverrat an der Zielutopie einer 'bürgerlichen Gesellschaft'" begangen, wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler festgestellt hat. Wehler hat auch den schönen Begriff der "Bürgertümer" geprägt – und das ist sicherlich eine intelligentere Beschreibung dessen, was wir nicht in einem, sondern in vielen bürgerlichen Lagern im Jahre 2015 hierzulande vorfinden.
Den Bürger zeichnete einst aus, dass er sich mit Fleiß und Bildung nach oben gearbeitet hat. Das war auch eine Sache des Geldes. In digitalen Zeiten zählt das Geld nicht mehr. Noch nie war es so preiswert, sich umfassende Bildung zu verschaffen. Die "digital natives", die Ureinwohner des Internets, hüpfen schon von einem Baum der Erkenntnis zum nächsten und rütteln am Bildungsmonopol des Akademikerstammes. Wenn den Kindern dereinst hoffentlich in einem Schulpflichtfach Medienkunde beigebracht wird, wie sie die Möglichkeiten des Internets klug und verantwortungsvoll nutzen, dann kriegen wir Millionen echter digitaler Weltbürger. Aber das sind Fragen, die sich wirklich nur jemand stellen kann, der auf diesem Planeten lebt – und die letzten 40 Jahren nicht verschlafen hat.
Doch halt. Jetzt, dahinten, sehe ich doch das bürgerliche Lager der Wahlabende und von CSU-Friedrich: Es ist ein Feldlager, abgesichert mit Wachtürmen, auf denen Wahlforscher und Medienschwätzer hocken. Und friedlich weiter schlummern.
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