Geschichte

Wie wichtig war das jüdische Bürgertum?

Von Klaus Hödl |
Forscher empfehlen den Lehrern in Deutschland, die Rolle des jüdischen Bürgertums in der deutschen und mitteleuropäischen Kultur stärker zu beachten. Diese Empfehlung sei zwar gut gemeint, greife aber für die Geschichtswissenschaften zu kurz, meint Klaus Hödl.
Das jüdische Bürgertum des 19. Jahrhunderts fasziniert. Es steht für Aufbruch, Bildung und Emanzipation - und ebenso für viele persönliche und dramatische Konflikte mit dem nichtjüdischen Bevölkerungsteil. Den Salons, den belesenen Frauen, den Wissenschaftlern und Unternehmern, den Politikern und Schriftstellern wurden nach dem Holocaust viele historische Aufsätze und Bücher gewidmet.
Einerseits ist es verständlich, beschreiben zu wollen, welche Leerstelle in der geistigen Landschaft Mitteleuropas die Vertreibung und Ermordung im Nationalsozialismus hinterließ. Andererseits ist es ein Versäumnis, sich nicht auch mit jüdischen Arbeitern, sich nicht auch mit populärer Kultur zu beschäftigen.
Salons in weiträumigen Wohnungen
Vielleicht ist es sogar ein weiteres Unrecht, die Geschichte eines großen Teiles der deutschen Judenschaft auszublenden, nämlich jener Juden, die weder Rechtsanwälte noch Intellektuelle, sondern Proletarier, kleine Angestellte und Personen in äußerst prekären Arbeitsverhältnissen waren. Sie hatten nichts oder kaum etwas mit den - zahlenmäßig kaum nennenswerten - Juden zu tun, die Salons in ihren weiträumigen Wohnungen unterhielten oder diese besuchten.
Obwohl ganze Bibliotheken über die Bildungsbeflissenheit der Juden, deren Verhältnis zu Goethe und Schiller geschrieben worden sind, hatten viele jüdische Angehörige der gesellschaftlichen Unterschicht keinen Bezug zu diesen Dichterfürsten. Wenn sie sich kulturell betätigten, dann gingen sie nicht ins traditionelle Theater, sondern zu ethnografischen Ausstellungen.
Sie konsumierten die kulturellen Angebote für die breite Bevölkerung und besuchten Zirkusse, amüsierten sich über Artisten und Schausteller, über Schlangenmenschen, Bauchredner und bärtige Frauen, und waren auch in den Biergärten zu finden. Diese Freizeitaktivitäten, abseits des bürgerlichen Bildungskanons, hat die Geschichtsschreibung bisher weitestgehend ignoriert.
In gewisser Weise ignorant verhält sie sich eigentlich auch gegenüber dem viel behandelten jüdischen Bürgertum. Denn die Erzählweise ist eindimensional. Es wird die Geschichte der Anpassung der Juden an bürgerliche Standards dargestellt. Und dieser Ansatz ist sehr problematisch.
Fremde in der eigenen Heimat
Er geht nämlich von der Vorstellung aus, dass Juden vor ihrer Akkulturation gleichsam außerhalb der deutschen Gesellschaft standen. Sie mussten den bürgerlichen Kanon erst annehmen, um als sogenannte Mitbürger anerkannt zu werden und damit auch auf die kulturellen Prozesse einwirken zu können. In diesem Zusammenhang wird zumeist der Begriff des "jüdischen Beitrages" verwendet, als seien sie kulturelle Migranten, Fremde in der eigenen Heimat.
Allerdings waren Juden schon vor der Annahme eines bürgerlichen Habitus ein Teil der Gesellschaft. Und damit haben sie auch deren Kultur und Werte immer schon mitgeprägt. Ein nicht geringer Teil der Populärkultur geht auf sie zurück. In Österreich waren die ersten Zauberkünstler im späten 18. Jahrhundert allesamt Juden, und es dauerte eine Weile, bis auch Nichtjuden mit allerhand Tricks die Menschen in Erstaunen versetzten. In Deutschland dürfte das wohl nicht viel anders gewesen sein.
Statt immer wieder die national schmückende Rolle des jüdischen Bürgertums hervorzuheben, wäre es vielleicht angemessener, die zahlreichen Milieus sowie komplexen Vernetzungen von Juden und Nichtjuden zu durchleuchten. Damit würde ein weit besseres Verständnis über die Lage der Juden in der deutschen Gesellschaft vor dem Holocaust gefördert.
Klaus Hödl ist Historiker am Centrum für Jüdische Studien an der Karl-Franzens-Universität Graz, dessen Gründungsdirektor er von 2001-2007 war, und Autor von sechs Monografien über osteuropäische Juden, Bilder des jüdischen Körpers und jüdische Geschichtsschreibung, zuletzt "Kultur und Gedächtnis", September 2012, Verlag Ferdinand Schöningh.
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