Untergang der "feinen" Gesellschaft

Rainer Moritz im Gespräch mit Britta Bürger · 13.11.2013
In seinem Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" beschreibt Marcel Proust eine Gesellschaft, die dem Untergang geweiht ist: Am Vorabend des Ersten Weltkriegs feiert sich das gehobene Pariser Bürgertum selbst. Die Hauptfigur Swann ist zunächst begeistert vom Leben in den Salons, bis er unter die "feine" Hülle blickt. Proust sei in gewisser Weise ein Soziologe gewesen, sagt Literat Rainer Moritz.
Britta Bürger: Was war das für eine Gesellschaft, die Marcel Proust da beschreibt in seinem epochalen Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"? Eine Gesellschaft, die dem Untergang geweiht ist? Schließlich ist der erste Band des Werks im November 1913 erschienen, nur wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Wir werden uns das Proust'sche Gesellschaftsbild gleich genauer anschauen, auch jene Salons, in denen die Hauptfigur Swann eine Weile Tag für Tag ein und aus ging. Bis seine anfängliche Begeisterung in ätzende Kritik umschlägt.

"Alles in allem schien ihm das Leben, das man bei den Verdurins führte und das er so oft als das 'wahre Leben' bezeichnet hatte, jetzt als das schlimmste von allen, und der 'kleine Kreis' als ein unvorstellbar niedriges Milieu. 'Er ist wirklich', dachte er bei sich, 'die unterste Stufe auf der sozialen Leiter, der letzte Dantesche Höllenkreis. Kein Zweifel, dass der erhabene Text sich auf die Verdurins bezieht! Man mag über die Menschen der guten Gesellschaft denken, was man will, aber auf alle Fälle sind sie doch etwas anderes als dieses Pack; sie beweisen ihre Klugheit damit, dass sie es ablehnen, die Bekanntschaft dieser Kreise zu machen, sich auch nur die Fingerspitzen an solchem Umgang zu beschmutzen! Welche weise Einsicht liegt im Noli me tangere des Faubourg Saint-Germanin!'"

Britta: Wie weise, dass sich die wirklich feine Gesellschaft des Faubourg Saint Germain abschottet, meint Marcel Proust. In Hamburg ist jetzt Rainer Moritz für uns im Studio, der Leiter des dortigen Literaturhauses und Vizepräsident der Proust-Gesellschaft. Schönen guten Morgen, Herr Moritz!

Rainer Moritz: Schönen guten Morgen!

Bürger: Wir konzentrieren uns ja auf den ersten Teil des Romans, auf "Swanns Welt" – was für ein Gesellschaftsbild ist das, das Proust hier entwirft?

Moritz: Ich glaube, in diesem ersten Teil, vor hundert Jahren erschienen, ist schon sehr viel angelegt, was dann in den späteren Bänden erst ausformuliert wird. Das Famose an Prousts Roman ist ja, dass man ihn lange auch unterschätzt hat als Gesellschaftsroman. Man hat andere Themen in den Mittelpunkt gestellt, der Bewusstseinsroman, der Erinnerungsroman, und wenn man genau hinschaut, dann sieht man schon in dem ersten Teil, der ja so ländlich beginnt, in Combray, wie sehr viele Themen, die Proust später in den Salonszenen, die gerade auch zitiert wurden, wieder aufgreifen wird.

Swann besucht die Familie des Erzählers, und die Familie des Erzählers ist, und das ist ganz typisch für den Roman, für alle Kreise, die Proust versucht zu schildern, besetzt von Vorurteilen, von festen Einschätzungen, so, wie Gesellschaft zu sein hat, wie man sie sich vorstellt. Und deswegen, das ist quasi der Einstieg in diesem ersten Combray-Teil, wird Swanns Rolle, die er in Paris spielt – er spielt eine besondere Rolle, er ist Kunstsammler, er ist den besten Kreisen verbunden –, und das hält die Familie des Erzählers schlichtweg für unmöglich. Das heißt, man unterschätzt diese Figur Swanns kolossal. Er unternimmt auch keine Anstrengungen, das zu erklären.

Also, der Roman setzt schon in diesen ersten Teilen damit ein, dass bestimmte Milieus gegeneinander ausgespielt werden, Milieus sich abgrenzen voneinander und der Roman nach und nach durchdringt, was macht diese Gesellschaftsszenarien aus, was ist deren Bedeutung und vor allem, wie verbinden sie sich miteinander.

Bürger: Und wie grenzt er diese Milieus voneinander ab? Wie beschreibt er sie, was für Zeichen, was für Codes gehören dazu?

"Wie gesellschaftlicher Aufstieg erlebt wird"
Moritz: Proust ist in gewisser Weise ein Soziologe gewesen. Unter den Romanciers hat er, glaube ich, wie keiner in dieser Zeit und wie kaum einer danach, in der Tat, Sie haben das Wort Code verwendet, es verstanden, die Milieus genau zu beschreiben. Es ist überliefert, wie Proust Briefe geschrieben hat, wie er Briefe nur geschrieben hat, um sich von seinen Briefpartnerinnen einen Hut, ein Kleidungsstück noch einmal beschreiben zu lassen. Er wollte keinen Fehler machen, deswegen hat er ja selber, das ist bekannt, jahrelang die Salons auch aufgesucht.

Das heißt, er hat genau beschreiben wollen, er hat vor allem alle diese Codes, die sich beispielsweise in Modedetails, die sich in Frisuren äußern und, das ist ganz entscheidend, die sich vor allem auch in der Sprache der Figuren äußert. Die hat er genau wiedergeben wollen, das heißt, das ist in weiten Teilen – das macht ja auch einen großen Reiz der "Recherche" aus – ein Roman, der sich genau differenziert durch die Dialoge, die geführt werden, durch das, was gegessen, durch das, was getrunken wird, durch die Unterhaltung, durch eben jene Modedetails, und da wollte Proust sehr, sehr genau sein.

Das heißt, das ist eine Methode, hier genau abzugrenzen, zu unterscheiden. Und man sieht im Roman, wenn man dann einzelne Figuren genauer anschaut, natürlich, was hat sich verändert, wir kleiden sie sich anders, wie gelingt es den Figuren, gesellschaftlichen Aufstieg zu erleben.

Bürger: Das heißt, man schmeckt, was in den Salons serviert wird, man hört, wie die Kammermusik dort gespielt wurde, und man spürt, wie die dicken Tapeten die Geräusche dämmen?

Moritz: Ja, das ist natürlich ein großer Vorteil des Romans. Das ist manchen Lesern auch ein bisschen zu viel gewesen, wenn Sie an die großen Salonszenen bei den Verdurins, wir haben es gerade gehört, bei den Guermontes. Wenn wir die in den Blickpunkt rücken, dann ist das eben minutiös beschrieben. Das hat sehr viel auch mit dem Stil Prousts zu tun, das heißt, die Art und Genauigkeit, mit der er Salonszenen beschreibt, mit der er Gesellschaft – das ist ja eine Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg, vom ausgehenden 19. Jahrhundert an –, wie er die beschreibt, das spiegelt sich sehr genau in dem viel beschriebenen Stil Marcel Prousts wieder, unter dem ja auch viele Übersetzer so gelitten haben, das heißt, ein Stil, der mit einer unglaublich verschachtelten Syntax einherkommt, der unglaublich viel Partizipialeinschübe macht und der, das ist ja bekannt, unglaublich viel Metaphorik aufbringt.

Die Sätze wollen nicht enden, und das, diese Stileigenart, die hat sehr viel zu tun mit der Art und Weise, wie Proust Gesellschaft spiegelt. Das heißt, es ist kein einfaches Bild mehr möglich, deswegen ist Prousts Roman ja auch immer als Klassiker der Moderne gelesen worden, aber dieses hochdifferenzierte Bild muss eben nicht nur thematisch in der Genauigkeit der Salons beispielsweise sich widerspiegeln, sondern auch im Stil, in der Syntax, in der Sprachgebung sich spiegeln.

Bürger: Ist darin Platz für Erotik? Bringt Proust Sprache auch zum Knistern?

Moritz: Natürlich ist er ein sinnlicher Erzähler. Wenn wir vom ersten Band sprechen, das ist ja sozusagen eine der Königsszenen der "Recherche", die berühmte Madeleine-Szene, dieser kleine Kuchen war ja in Urfassung übrigens noch ein Zwieback, das wäre viel prosaischer gewesen, wenn man das als Zwiebackstelle sozusagen in der Literaturgeschichte immer zitiert hätte. Das ist natürlich eine Stelle, die unglaublich von der Sinnlichkeit lebt. Jetzt noch mal relativ frei von Erotik an dieser Stelle, aber Proust war natürlich ein Autor, der genau diese Geschmacksszenarien, wenn der Lindenblütentee über den Gaumen rieselt, beschrieben hat. Und das ist letztlich eine Sinnlichkeit, die sich in erotischer Stelle wesentlich komplizierter äußert.

Man weiß ja, dass Proust sehr damit gerungen hat, wie stelle ich Homosexualität dar, wie baue ich sie in den Roman ein. Auch da gibt es sehr, sehr eindeutige Stellen, aber auch eben sehr viele Stellen, in denen er verhüllt hat, in denen er umschrieben hat.

Bürger: Die sinnliche Schilderung der Pariser Gesellschaft in Marcel Prousts Romanepos "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", darüber sind wir heute im Gespräch mit Rainer Moritz, dem Leiter des Hamburger Literaturhauses und Vizepräsidenten der Proust-Gesellschaft. Herr Moritz, acht Monate nach Erscheinen dieses ersten Bandes, acht Monate danach bricht der Erste Weltkrieg aus. Hat Proust diesen Untergang bewusst oder unbewusst heraufziehen sehen? Wie stellt sich das aus heutiger Sicht dar?

Marcel Proust, um 1900
Marcel Proust, um 1900© unbekannt
"Wer auf Aktion setzt, wird mit Proust nicht glücklich sein"
Moritz: Also ich glaube, das Romanprojekt, das sich ja über sehr viele Jahre hingezogen hat, das muss man immer bedenken, Proust hat sehr lange gerungen, hat eigentlich erst nach 1908 die richtige Form gefunden, den richtigen Anschub bekommen, als er sich mit dem Kritiker Sainte-Beuve auseinandergesetzt hat, das war sozusagen der Sprung hinein in den großen Roman, den er ja nicht hat vollenden können. Der Tod kam diesem großen Projekt zuvor.

Nein, Proust hat das, glaube ich, nicht bewusst darstellen wollen als eine auf den Krieg hinzusteuernde Romanfolge, aber er hat natürlich, das ist ein Hauptthema des Buches, Niedergang beschrieben. Er hat Untergang beschrieben. Er hat beschrieben, wie eine bestimmte Adelsszene in Paris – und der Roman spielt ja in weiten Teilen in Paris –, wie sie sozusagen selber in den Untergang hineinschlittert. Das hat er genau beschrieben.

Das heißt, er hat viele Figuren erfunden. Charlus, Baron de Charlus ist eine der Kernfiguren in dieser Hinsicht, hat er beschrieben, wie sie ihrem Untergang entgegensehen, wie sie dekadente Formen widerspiegeln, wie diese edle, noble Gesellschaft – wir haben in der Eingangsszene das ja schon gehört –, wie sie sozusagen sich selber verabschiedet, von ihrer Bedeutung verabschiedet. Das war ein Hauptthema Prousts, und deswegen ist das natürlich eine Darstellung des Niederganges der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, die zu dieser geschichtlichen Katastrophe führen wird. Er hat ja dann in späteren Bänden den Krieg selber auch noch thematisiert.

Bürger: Wie sind Sie selbst, Herr Moritz, eigentlich zum leidenschaftlichen Proust-Leser geworden?

Moritz: Das hat schon zur Schulzeit begonnen. Es geisterte so herum. Mein Französischlehrer hat mich darauf hingewiesen, das sei der große Roman des 20. Jahrhunderts aus Frankreich, und dann bin ich in die klassische Stadtbücherei gegangen, habe mir eben jenen ersten Band "Combray" ausgeliehen, der ja in der Tat einen sehr guten Einstieg gibt. Es soll viele Menschen geben, die über diesen ersten Band allerdings auch nie hinausgekommen sind, und habe mich in der Tat faszinieren lassen.

Ich glaube, man muss ein gewisses Faible haben für ein langsames Entfalten in der Literatur, für ein sich langsames Entwickeln. Also, Leser, die sehr viel auf Action setzen, werden mit Proust nicht glücklich werden, deswegen haben ja die ersten drei Verleger den ersten Band auch abgelehnt seinerzeit. Einer mit der Begründung, er könne gar nicht verstehen, wie man 30, 40 Seiten lang zum Anfang beschreiben könne, wie ein Mensch sich im Schlaf herumwälzt oder nicht einschlafen kann. Also, das ist wirklich eine ästhetische Grundfrage. Kann man damit etwas anfangen, will man sich auf dieses sinnlichen Details einlassen, will man sich auf diese Genauigkeit, die Proust in seinem Stil, in seinem Werk hat, einlassen?

Das war für mich schon als Schüler überzeugend, da habe ich mich hineingefuchst und habe dann tapfer während des Studiums auch jeden Abend einige Seiten auf Französisch gelesen, sodass ich einmal sagen konnte, ich habe es, auch wenn ich nicht jede Vokabel nachgeschlagen habe, ich habe es auf Französisch gelesen.

Bürger: Sie haben mehrfach zu Proust publiziert, unter anderem steht er in Ihrer Überlebensbibliothek. Warum gehört er da rein? Wann gibt er Ihnen so was wie Lebenshilfe?

"Wenn man über Kunst, Metaphysik oder Erinnerung nachdenkt"
Moritz: Ich weiß nicht, ob Literatur Lebenshilfe geben kann. Sie kann zumindest einen trösten und stützen in bestimmten Situationen …

Bürger: Ein Seufzen auffangen!

Moritz: Ein Seufzen auffangen, genau. Ich glaube, in dieser Richtung kann man auch Proust lesen, weil er, glaube ich, in der Tat erst mal große Hilfe gibt, wenn es darum geht, was erinnern wir von unserem Leben, was hält unser Leben zusammen? Prousts Roman endet ja in gewisser Weise mit einer kunstmetaphysischen Volte, das heißt, es ist ja bei Proust am Ende der Roman selbst vielleicht der, den wir gerade gelesen haben, mit dem man die Essenz der Dinge, eine wichtige Proust-Vokabel, einfangen kann.

Also dieses ständige Ringen, wie bringe ich mein Leben, wie bringe ich Identität wieder zusammen, das ist ein Hauptthema natürlich in Prousts Werk. Und da wird ja unterschieden der berühmte Unterschied zwischen willentlicher und unwillentlicher Erinnerung, schon im ersten Band ausgebreitet, der spielt eine wichtige Rolle. Ich glaube, da kann Proust in der Tat, wenn man Literatur als Hilfe, als Trost begreifen will, sehr viel dazu beitragen, dass man genauer wird im Nachdenken über Erinnerungen. Was meinen wir zu erinnern, wann glauben wir, dass wir wirkliche Erinnerungen haben? Gibt es das überhaupt? Ich glaube, das ist ein Thema, aber es gibt viele andere Themen.

Ich habe in der Überlebensbibliothek auch das Thema Eifersucht erwähnt. Wer eifersüchtig ist, wer mit dieser Leidenschaft ringen muss, der wird in Proust sehr fündig werden. "Eine Liebe Swanns" ist ja der zweite Teil des ersten Bandes, und deswegen kann man da sehr viel über dieses Thema nachlesen. Also, das geht sehr konkret, das geht aber auch eben abstrakt, wenn man über Kunst, Metaphysik oder Erinnerung nachdenkt.

Bürger: Marcel Prousts entlarvender Blick auf die Pariser Gesellschaft um 1900. Rainer Moritz hat sie mit Blick auf die Details noch mal aufleben lassen. Herzlichen Dank für das Gespräch.

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Leuchtkraft der Erinnerung
Reihe zu 100 Jahre "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"

Der Meister der Erinnerung
Vor 100 Jahren erschien Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"