Politik in Irland

Die schwierige Abkehr von der Allmacht der Kirche

09:45 Minuten
Aktivistinnen demonstrieren mit Schildern, mit der Aufschrift "I'm not a vessel" und den Umrissen von Irland, für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Im Hintergrund ist ein Kirchturm zu sehen.
Demonstration für eine Entkriminalisierung in Dublin: Die Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in Irland ist erst knapp drei Jahre her. © imago images / ZUMA Press
Von Martin Alioth · 03.03.2021
Audio herunterladen
Vor 100 Jahren hat sich Irland die Unabhängigkeit erkämpft – zum Preis eines beispiellosen Einflusses der katholischen Kirche auf Verfassung und Gesetzgebung. Die Emanzipation vom ethischen Kirchencodex gleicht einer sanften Revolution.
Mit einer klaren Zweidrittelmehrheit billigten die Wählerinnen und Wähler Irlands vor knapp drei Jahren die Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Bis zur zwölften Woche werden kaum Fragen gestellt. Damit fand ein 35-jähriges Ringen ein vorläufiges Ende: 1983 war - mit etwa derselben Mehrheit - ein nahezu absolutes Abtreibungsverbot in der irischen Verfassung verankert worden.
In der Zwischenzeit wurden unerwünschte Schwangerschaften in Großbritannien beendet. Dieses erste Abtreibungsreferendum von 1983 stellte wohl den Höhepunkt kirchlicher Allmacht in Irland dar.
Im halben Jahrhundert zwischen der irischen Unabhängigkeit im Jahre 1921 bis zur Mitte der 70er-Jahre, resümiert die Dokumentarfilmerin Mary Raftery, habe die irische Gesellschaft der Kirche vollständige Kontrolle über Recht und Unrecht, über Gut und Böse überlassen.
Raftery, die Irlands Emanzipation nicht mehr erlebte, fand eine dramatische Metapher: Die naheliegendste Parallele zum Irland der Fünfzigerjahre sei Afghanistan unter den Taliban. Schulen und Krankenhäuser wurden von kirchlichen Orden kontrolliert, der Staat übte eine recht skrupellose Zensur aus, die Sexualität wurde unterdrückt.

Verfassung von 1937 in enger Absprache mit der Kirche

Diese Entwicklung war nicht unausweichlich. Die Sieger des irischen Bürgerkrieges erließen 1922 eine weitgehend säkulare Verfassung. Das änderte sich nach dem friedlichen Machtwechsel zehn Jahre später. Die Fianna-Fáil-Partei unter dem schillernden Eamon de Valera zerschnitt die letzten Bande an das Vereinigte Königreich und lehnte sich enger an die Kirche an.
Die neue Verfassung von 1937 entstand in enger Absprache mit dem späteren Erzbischof von Dublin und dem Vatikan. Sie verlieh der Katholischen Kirche eine Sonderrolle, fesselte Frauen an Haus und Herd und stattete die Familie mit exklusiven Vorrechten aus, die über dem staatlichen Recht standen.
Ein kurioser Artikel 45 bildete die päpstliche Sozialethik der Zwischenkriegszeit ab, konnte aber nicht gerichtlich eingeklagt werden. Demnach sollte das Parlament zum Beispiel verhindern, dass der freie Wettbewerb zu Verzerrungen in der Vermögensverteilung führte.

Kirche füllt Machtvakuum nach der Unabhängigkeit

Wie schon nach der Hungersnot in der Mitte des 19. Jahrhunderts füllte die Kirche nach der Unabhängigkeit begeistert das Vakuum an Macht und Autorität aus. Als ein fortschrittlicher Gesundheitsminister, Noel Browne, 1951 einen kostenlosen Gesundheitsdienst für alle Mütter mit Kindern einführen wollte, schlugen die Kirche und der Dubliner Erzbischof John Charles McQuaid erbarmungslos zu.
Die Kirche argwöhnte, ein rein staatlicher Gesundheitsdienst werde unweigerlich den Zugang zur Abtreibung öffnen und die garantierten Rechte der Familie schwächen. So landete der Plan im Papierkorb, der Minister trat zurück.
Beim Besuch von Papst Johannes Paul II. in Irland 1979 triumphierte die Kirche. Máire Hickey, Äbtissin eines irischen Benediktinerinnenklosters, erinnert sich: Das erschien ihr wie ein Höhepunkt des irischen Katholizismus, voller künftiger Versprechen, doch es kam umgekehrt, die Kirche sei im Niedergang seither. Es gebe kaum kirchliche Stimmen mit Autorität, denen die Gläubigen zuhören wollten.
Allein, der von der Äbtissin beobachtete Niedergang der Bischofskirche und der Zerfall ihres Magisteriums verliefen keineswegs linear. Dem bereits erwähnten Abtreibungsverbot von 1983 folgte drei Jahre später ein weiteres Referendum, das die zivile Ehescheidung verbot. Irland erlaubte keine zweite Chance, war erbarmungslos mit den Fehlbaren.

Heimkehrende Emigranten veränderten das Klima

Doch die Ecclesia triumphans stand, wie sich in den Neunzigerjahren herausstellte, auf tönernen Füßen. Verhütungsmittel wurden mit einiger Verspätung nun auch in Irland verfügbar, die Homosexualität wurde 1993 entkriminalisiert.
Eine Reihe von Skandalen um pädophile Priester unterspülte die Wirksamkeit bischöflicher Ermahnungen. Und: Irland erlebte einen wirtschaftlichen Aufschwung, der Keltische Tiger war geboren.
John FitzGerald ist Ökonomieprofessor am Trinity College in Dublin: Der kulturelle Wandel Irlands könne nur unter Berücksichtigung der heimkehrenden Emigranten verstanden werden. Junge Irinnen und Iren, die in den Jahrzehnten zuvor ausgewandert waren, kehrten nun zurück und bliesen die Spinnweben von der irischen Gesellschaft. Davon war auch die klerikale Kontrolle betroffen.
1992 und erneut zehn Jahre später weigerten sich die irischen Wähler, eine höchst prekäre Unterscheidung zwischen dem Leben und der Gesundheit einer schwangeren Frau in der Verfassung zu verankern.
Premierminister Enda Kenny fand 2011 deutliche Worte, um die Dienstfertigkeit von Politik und Gesellschaft in der Vergangenheit zu beschreiben: "Wir sind nicht in Rom. Noch sind wir im Irland der Arbeitsheime und Magdalenerinnen-Wäschereien, als das Rauschen einer Soutane Gewissen und Menschlichkeit erstickte, als das Weihrauchfass das katholische Irland beherrschte. Nein: das ist die Republik Irland im Jahre 2011."

Regierungschef Varadkar legte Finger auf kritische Punkte

Kennys Nachfolger Leo Varadkar verkörperte als Premierminister diesen Wandel wohl wie kein zweiter. Als schwuler Sohn eines Einwanderers aus Indien und einer irischen Mutter entstammte er keiner der traditionellen Politikerdynastien. Als Irland 2015 als erstes Land der Welt die Schwulenehe in einer Volksabstimmung anerkannte, sprach Varadkar, damals noch nicht Premier, aber bereits Minister, für Viele: Für ihn ging es nicht um irgendeine Reform; das sei eine gesellschaftliche Revolution.
In der Tat, doch es war eine sanfte Revolution, in der quer über die Generationen Geschichten erzählt wurden und zugehört wurde. Ähnliches geschah dann drei Jahre später im eingangs erwähnten Abtreibungsreferendum. Wiederum legte Varadkar, inzwischen Regierungschef, den Finger auf den kritischen Punkt: Die Verfassung sei nicht für absolute Aussagen über medizinische, moralische oder juristische Sachverhalte geeignet.
Und so endete die konstitutionelle Gegenrevolution in Irland, die gewählten Gesetzgeber wurden vom Volk instruiert, progressive Gesetze zu erlassen, anstatt fromme Zweideutigkeiten in die Verfassung zu schreiben und die alltägliche Wirklichkeit zu ignorieren.
Mehr zum Thema