Poesiefilme

Die Magie der Lyrik auf der Leinwand

29:49 Minuten
Eine junge Frau schwebt mit ausgeschtreckten Armen waagrecht über dem Küchsntisch.
Screenshot aus dem Poetry Clip "Leicht werden" von Jürg Halter © Screenshot YouTube / niemandundunbedingt /Jürg Halter - Leicht werden - Poetry Clip
Von Astrid Mayerle · 17.12.2021
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Verspielt, bezaubernd und unberechenbar: Der Poesiefilm ist ein eigenwilliges Genre, das von Anfang an zum Kino gehört. Klassiker hatten oft die Länge einer Filmrolle, heute widmen sich mehrere Festivals den von Gedichten inspirierten Filmen.
Wenn Poesie und Film zusammenkommen, entstehen ungeahnte Möglichkeiten. Kaleidoskopische Split Screens, rasant schnelle Bildfolgen, aber auch das pure Gegenteil: ein fesselnder Augenblick als unendlich gedehnte Zeitlupe. Letzteres probt der Schweizer Autor Jürg Halter in „Leicht werden“, einem zweieinhalbminütigen Poesiefilm. Die Faszination liegt darin, dass bereits die ersten Bilder in einen magischen Raum führen.

Magischer Raum

Eine junge Frau steht auf einem Holztisch. Wie eine Tänzerin breitet sie die Arme zu beiden Seiten aus. Die Kamera zoomt auf Ihre Füße.
Die Fersen der jungen Frau heben sich in extremer Zeitlupe. Dann rollen die Sohlen ab. Die Zehen verlassen die Tischplatte. Mit geschlossenen Lidern überlässt sich die Frau der Horizontalen und damit dem Zustand der Schwerelosigkeit. Jürg Halter erzählt: „Im Gedicht geht es um Schnee, um den Schneefall. Dann war irgendwie von Anfang an klar, dass man nicht draußen im Schnee was drehen soll, sondern drinnen.“
Halter wollte seinen Poesiefilm nicht in einer Studiokulisse drehen, sondern in einem Raum mit Vorgeschichte und individuellen Lebensspuren. Eine private Einzimmerwohnung in Montreal war das ideale Setting - im Film ein magischer Raum mit E-Piano und Kühlschrank.
„Das Aufwendigste war, die Frau zum Schweben zu bringen. Da musste man extra eine Vorrichtung installieren, wo sie sich trapezmäßig bewegte. Das musste alles im Nachhinein retuschiert werden, dass man das nicht mehr sieht. Das war ziemlich aufwendig.“
Nichts deutet im Film auf das technisch so komplizierte Setting hin. Pure Leichtigkeit.

Von einem Genre ins andere

Der Poesiefilm verleibt sich die verschiedensten Künste ein - auch den Straßenrap, den Tanz und die Performance. Er kreiert dadurch völlig neue filmische Spielarten. Das beweisen mittlerweile mehr als zwei Dutzend internationale Festspiele von Oslo über Kiew bis Neu-Delhi und Montreal, die sich ausschließlich diesem Genre widmen.
Thomas Zandegiacomo ist künstlerischer Leiter des ZEBRA Poetry Film Festivals Berlin, er erzählt: „Der Poesiefilm kann mehrere Genres miteinander verbinden, ein Hybrid sein. Das kann ein Dokumentarfilm sein, in dem man ein Gedicht hört, liest oder sieht. Es kann eine Animation sein, die mit dem Gedicht arbeitet. Sogar im Spielfilm in den Dialog hineingebaut, kann das Gedicht auftauchen. So fließt der Poesiefilm als Hybridform von einem Genre ins andere, manchmal innerhalb eines Filmes sogar.“
Neben den internationalen Festivals kennt der Poesiefilm noch einige weitere Bühnen: Seine Fangemeinde trifft sich auch im Internet, auf den Webseiten von Lyrikern, auf Youtube oder dem Filmkanal Vimeo. Auch Amateure laden hier ihre Miniaturen hoch.
Mittlerweile findet man zu vielen bekannten Gedichten mehr als ein Dutzend Versionen auf Youtube, wie etwa zu William Carlos Williams Zeilen "This is just to say". Ein Gedicht, das wie eine kurze Nachricht auf einem Notizzettel klingt: Jemand entschuldigt sich dafür, dass er die Pflaumen gegessen hat, die er im Kühlschrank fand und die eigentlich für das Frühstück bestimmt gewesen waren.

Kollegengespräch mit Hölderlin

Ulrike Almut Sandig hat in ihren Anfängen als Lyrikerin ihre Gedichte auf Bauzäune geklebt und kostenlos auf Flyern verteilt. Später experimentierte sie auch mit dem Poesiefilm. In den vergangenen Jahren stellte sie mehrere eigene Filme auf ihren Youtube-Kanal. Einer von ihnen hat eine besondere Entstehungsgeschichte: Er wurde im Auftrag des Museums im Hölderlinturm in Tübingen produziert. Der Ausgangspunkt war ein Gedicht Friedrich Hölderlins, wie sie erzählt:
Es gibt dieses späte Gedicht von Anfang der 80er-Jahre: 'Wie wenn am Feiertage' geht das los, nicht übertitelt, weil es unvollendet ist von ihm. Die Kuratorin des Hölderlinturms hat diesen Text verschiedenen Schauspielern und Künstlern gegeben, was damit zu machen.“

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Sie schickte ihn auch Sandig. Mit dem Vorschlag, ein Video zu drehen und den Text darin selbst einzusprechen. Das konnte sie sich allerdings schlecht vorstellen und schlug stattdessen eine Art Nachdichtung oder Weiterdichtung vor.
Sie begibt sich in ein Kollegengespräch mit Friedrich Hölderlin, indem sie seinen Text mit eigenen Zeilen konfrontiert. Zwischen Hölderlins Zeilen schiebt sie ihre Gedanken, wie sie sagt: „Es hat was damit zu tun, dass ich Hölderlin nahe sein wollte, ohne die Jahrhunderte zu unterschlagen, die zwischen uns liegen.“

"The Night before Christman"

Die Anfänge des Poesiefilms fallen beinahe mit den Anfängen der Filmgeschichte zusammen. Thomas Zandegiacomo vermutet, dass Gedichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts wegen ihrer Kürze und Bekanntheit als Filmvorlagen besonders attraktiv erschienen. Die Geschichte war bereits populär, sodass das Publikum dem Film überhaupt folgen konnte. Denn bewegte Bilder waren ein völlig neues Medium und die Sehgewohnheiten unterschieden sich sehr von den heutigen.
„The Night before Christmas“ von Clement Clarke Moore gehörte in den USA zu den populärsten Gedichten überhaupt. Viele Erwachsene und bereits Kinder kannten zumindest den Anfang oder Teile davon auswendig. Ein kleiner Junge erzählt von den Vorbereitungen, die er und seine Familie für den Weihnachtsmann treffen.
Die ersten Schwarz-Weiß-Bilder des Films zeigen einen langbärtigen Weihnachtsmann, der seine Rentiere und Rehe füttert. Währenddessen hängen die Kinder ihre Strümpfe am Kaminsims auf und gehen ins Bett.
Der Film entstand in den Studios von Thomas Alva Edison, einem der erfolgreichsten Erfinder, Unternehmer und ein Pionier der Branche. 1893 hat er das erste Filmstudio der Welt eingerichtet. Sein Regisseur Edwin S. Porter kombiniert in "The Night before Christmas" bereits zwei verschiedene Techniken: Spielfilm und Animation.
Zandegiacomo sagt dazu: „Er hat eine Modelllandschaft aufgebaut, wo der Schlitten mit den Rentieren über die Landschaft fliegt. Das ist sehr schön gemacht, wahrscheinlich ist es eine Stop-Motion-Animation. Am Ende dieses Films taucht ein Weihnachtsmann auf, der sehr stark an den Weihnachtsmann von Coca Cola erinnert. Das geht in dem Fall schon sehr stark in die Werbung.“

"Manhatta" als Meilenstein der Filmgeschichte

Typisch für die frühen Poesiefilme ist eine Länge von etwa zehn bis zwölf Minuten, was damals einer Filmrolle entsprach. Manche Kinobesitzer waren übrigens der Meinung, damit sei die Grenze zur Überforderung des Publikums erreicht.
Der frühe Poesiefilm hatte ganz maßgeblichen Einfluss auf die Erzählweise des Films überhaupt. Hier findet sich der erste Jump Cut, also der erste Zeitsprung, der Filmgeschichte.

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1921 kam ein überwältigendes poetisches Dokument über die Faszination der modernen Großstadt in die Kinos: „Manhatta“. Im Titel steckt der Name, den die Algonkin, die ersten Bewohner des heutigen Manhattan, der Insel gegeben haben und der auch in Walt Whitmans Gedichten über New York auftaucht. Verschiedene Zeilen daraus werden im Film mehrmals vor die fast schwarze Großstadtsilhouette geblendet.
Der Poesiefilm „Manhatta“ zählt als das erste Stadtporträt zu den Meilensteinen der Filmgeschichte. Zwei Fotografen, Paul Strand und Charles Sheeler, haben ihn gedreht, wie Zandegiacomo erzählt:
„Die Fotografie und der Stil ihrer Fotografie, das Industrielle, taucht in dem Film stark auf und dominiert ihn regelrecht. Er zeigt ganz schön, wie sie diese Stadt, diesen Stadttypus, der für alle damals sehr neu war, wahrnehmen und darstellen möchten. Es wurden in kürzester Zeit Hochhäuser gebaut mit neuester Technologie, man konnte immer höher bauen.“

Häuser wie funkelnde Diamanten

Wie aneinandergereihte funkelnde Diamanten in der Nacht, so taucht die Skyline New Yorks vor dem schwarzen Hintergrund auf. Wuchtige Schattenrisse der Hochhäuser, dramatische Mauerkanten in Schwarz-weiß, und dann fährt auch noch die Titanic ins Bild. Pathos wohin das Auge reicht.
Ulrike Almut Sandig sagt: „So große Würfe und sich für den absoluten Nabel der Welt halten als Stadt. Damit meine ich nicht nur Whitman, den Fotografen und den Filmemacher, sondern ich meine auch, was sie dargestellt haben, diesen Mythos des Größenwahns von Manhattan. Das ist etwas, was unserer Kultur widerspricht, aber was ich merke, was uns auch ein bisschen fehlt, weil es uns manchmal an Selbstbewusstsein mangelt, dem falschen Pathos was entgegensetzen zu können.“

Spannung zwischen Gedicht und Bild

In den frühen Poesiefilmen sind sich Text und Bild noch sehr nahe. Ganz anders heute. Das Verhältnis von Gedicht und bewegtem Bild immer wieder neu auszuloten, Spannungsverhältnisse herzustellen, gegenläufige Beziehungen zu proben, all das gehört zur Experimentierfreude heutiger Lyriker und Filmer.
Manchmal ist die lyrische Vorlage nur mehr punktuell zu erahnen. Thomas Zandegiacomo findet es besonders interessant, wenn er anfangs nicht erkennen kann, wo das Gedicht auftaucht:
„Das ist für mich sehr spannend, wo ich Schritt für Schritt erkenne, da ist das Gedicht besonders stark umgesetzt worden oder da hat der Film besonders schön mit den Metaphern des Gedichts gearbeitet. Das ist das eine. Das andere ist, wenn der Film an sich zu Ende ist und man noch eine ganze Weile dasitzt und man eigentlich nichts sagen kann, weil man immer noch so beeindruckt ist von der Umsetzung.“
(DW)

Sprecher: Katja Hensel und Olaf Ölstrom
Regie: Giuseppe Maio
Ton: Christiane Neumann
Redaktion: Dorothea Westphal

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