Klagelied von Ulrike Almut Sandig

"fahr jetzt zum Airport, schreibt er als letztes"

06:03 Minuten
Ulrike Almut Sandig sitzt in einem Raum in einer von vielen Stuhlreihen. Die Schriftstellerin und Lyrikerin trägt ein blau-schwarzes Oberteil an, die Haare trägt sie kurz.
Ulrike Almut Sandig lernte einen jungen Mann aus Afghanistan kennen, als der ihre EC-Karte fand und ihr wiederbrachte. © Michael Aust © Villa Concordia
Moderation: Frank Meyer · 17.08.2021
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Ihre Klagelieder erzählen von Verlust, Terror und Flucht. Sie beruhen auf Geschichten einer afghanischen Familie, die Ulrike Almut Sandig vor einigen Jahren kennen gelernt hat. Nun ist ein neues Lied hinzugekommen: über einen Übersetzer, der zurückgelassen wird.
Ulrike Almut Sandig kennt seit einigen Jahren eine Familie aus Afghanistan. Der Kontakt kam zustande, weil sie "wieder einmal" ihre EC-Karte im Nahverkehr-Ticketautomaten stecken gelassen hatte, berichtet die Schriftstellerin und Lyrikerin: "Dann hat sich bei mir über Facebook ein junger Mann aus Afghanistan gemeldet, der die gefunden hat und mir zurückgeben wollte."
Das sei vor rund fünf Jahren gewesen. Der junge Afghane habe fast kein Deutsch gesprochen: "Aber wir haben uns trotzdem gut verstanden – und seitdem bin ich in Kontakt mit ihm und seiner vielköpfigen Familie."

Alle Asylanträge wurden abgelehnt

"Er ist noch als Jugendlicher hierher geflüchtet und lebt hier mit seinen Eltern und seinen vier Geschwistern. Bis jetzt sind alle Asylanträge abgelehnt worden", sagt Sandig. Sie habe von diesen Menschen viele Geschichten gehört, "über sich selbst, über ihre Freunde, über ihre Verwandte. Und die habe ich dann irgendwann vor Jahren schon in Klageliedern verarbeitet."
Eines dieser Lieder hat Sandig gerade erst unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse in Afghanistan geschrieben. "Als die Taliban Kabul eingenommen haben, habe ich gedacht, ich muss etwas machen und habe noch ein Klagelied hinzugefügt, in dem ich von einem Übersetzer, der zurückgelassen wird, erzähle."

Kollektive Scham über die Außenpolitik

In dem Klagelied ist von einem kleinen Mann die Rede: "Der kleine Mann ist zum einen dieses schlechte Gewissen in unseren Köpfen, das wir alle haben, wenn wir schon allein die deutsche Sprache benutzen und wenn wir an unsere Außenpolitik denken. Wir kommen aus unserer kollektiven Scham über deutsche Außenpolitik gar nicht mehr raus", sagt sie.
Der kleine Mann sei zudem ein Diminutiv: "Der Geflüchtete, der immer und überall klein gemacht wird – insofern ist, dass lange 'der Flüchtling' gesagt wurde, leider, leider sehr korrekt. Denn diese Leute werden in meinen Augen gar nicht wie erwachsene Personen behandelt."
I. Runde
der kleine Mann in meinem Kopf heißt Omid.
er zieht seine Runden durch alle Wunder
meines Gehirns, im verhaltenen Run der Gejagten
die das Gejagtsein gewohnt sind.
meine Wunder lassen ihn kalt. der kleine Mann
in meinem Kopf geht immer rennen, niemals
reisen. er trägt eine Nummer im Pass, die ihm noch
das Scheißen verbietet. er nennt sie sein "Aufeintal…"
sein Aufenthalt schlägt als Phantomherz im Hals
eines Läufers, der Schmerzen gewohnt ist.
II. Runde
der kleine Mann besitzt eine Frau, die manchmal
Schmerzmittel braucht. die Frau bewohnt
seinen Kopf, denn Frauen wie sie entkommen
der Herzregion und ihren irren Wunderkammern
niemals allein, sagt Omid. sie misst seine Hypophyse
fürs neunte Kinderbett aus. sie isst Tabletten
gegen Herzschwäche und gegen den Birnbaum
in ihrem Kopf, der rauscht wie der Birnbaum früher
im Hof. seine Blätter füllen sie aus. sie füllt Omid aus.
Runde um Runde zieht er durch mein Gehirn.
III. Runde
der kleine Mann in meinem Kopf, er hatte
sieben Söhne. der erste stand an der Bushaltestelle
als eine Drohne einschlug. der zweite sprengte
sich selbst in die Luft. der dritte zählte bis Tausend
als jemand dem Lehrer die Kehle durchschnitt.
der vierte blieb an der Küste für einen Job beim Schlepper
der eigenen Leute. der fünfte Sohn fiel aus dem Boot.
die jüngsten verstehen die Wörter des kleinen Mannes
nicht mehr. sie spielen an meiner Aorta, Omid.
sie lachen im Schlaf. die sind dir geblieben.
IV. Runde
der kleine Mann in meinem Kopf, er hatte
eine Tochter. er liebte, wie sie das Hackfleisch
zerkochte, er liebte, wie sie widersprach.
er liebte das Wunder ihres Aufeintals in Omid.
für den Gegenwert eines Tickets nach Deutschland
hat Omid seine Tochter verkauft. heute rief sie
ihn an. sie klang, als säße sie in seinem Gehörgang.
dem Birnbaum im Hof ginge es gut. seit Wochen
sei sie nicht draußen gewesen. oh, draußen
sagt Omid in sich hinein, erwartet dich nichts.
V. Runde
der kleine Mann in meinem Kopf, er hatte
einen Bruder. der half den Deutschen beim
Wörterfinden in seinem Land und hat darüber
sein Leben verloren. hast du noch gar nicht
ورور tippt Omid in sein Handy und hängt noch
ein Bruderherz dran. bist doch im Safe House, du
weißt, was das heißt! aber sein Bruder weiß, wie
man Lippenbekenntnis ins Paschtu übersetzt.
fahr jetzt zum Airport, schreibt er als letztes.
melde mich, wenn ich in Sicherheit bin.
VI. Runde
der kleine Mann in meinem Kopf liest Ovid.
er liest ihn in den Blättern des Birnbaums im Kopf
seiner Frau, die die Wörter hier besser versteht
als er, ohne ein einziges schreiben zu können.
Omid liest Ovid im Skype seiner Tochter
die seit ihrer Hochzeit die Hand nicht mehr
stillhalten kann. ich bin am Ende mit meinem Latein
sagt er, und sie ins Handy: بابک ich hör nichts!
Aufeintal folgt ein Berg!, ruft Omids Frau in den Wehen
im Singsang von denen, die Wehen gewohnt sind.
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