Streitkultur

Nicht ärgern – sondern debattieren!

Nahaufnahme einer Hand, die Spielsteine bei einem Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spiel bewegt.
Eliza Diekmann, die Bürgermeisterin von Coesfeld, wünscht sich eine lebhafte und konstruktive Streitkultur - nicht nur in der Politik. © imago / Becker&Bredel / bub
Ein Kommentar von Eliza Diekmann · 24.07.2023
Von der Ampelkoalition bis zur Familie: Ist es fatal, oft zu streiten? Keineswegs, findet Eliza Diekmann, Bürgermeisterin im westfälischen Coesfeld. Denn Streit könne eine Gesellschaft und die Demokratie weiterbringen. Er müsse nur konstruktiv sein.
In unserem wunderschönen Schlosspark sitzen Familien am Wasser, Kinder spielen. Hier begegnen sich Jung und Alt und Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft, mit ihren ganz unterschiedlichen Geschichten, und schenken einander ein Lächeln. Wenn wir uns umblicken in unserer Stadt, uns diesen Moment Zeit nehmen und unser Leben kurz vor den Toren von Münster betrachten, stellen wir fest: Ach, geht es uns gut!

Heile Welt in Coesfeld?

Die Kreisstadt Coesfeld mit ihren rund 37.000 Einwohnerinnen und Einwohnern liegt im Herzen des Münsterlandes. Die Innenstadt ist bunt und lebendig, drei Mal in der Woche gibt es einen frischen Markt, immer wieder kommen die Menschen zu Festen zusammen, jeder kennt irgendwie jeden. Hier passen wir noch aufeinander auf.
Es gibt Kitaplätze, 14 allgemeinbildende Schulen, die Arbeitslosenquote im Kreis liegt bei 3,4 Prozent. Ein starker Mittelstand bildet ein stabiles Rückgrat, im Stadtrat sind nur demokratische Parteien aktiv.
Schaut man sich in Deutschland um, klingt dies nach kleiner, heiler Welt, oder? Das ist es auch.

Im Alltag vergessen wir, wie gut wir es haben

Im Alltag vergessen wir das natürlich. Die Erwartungshaltung: Höher, schneller, weiter – aber bitte sofort! Corona, Krieg, Inflation zeigt: Am Ende sind wir uns selbst am nächsten.
Unsere kommunalen Spielräume schwinden, die Aufgaben werden immer größer und vielfältiger. Dinge, die zuvor Landes- und Bundesaufgabe waren, sind nun in unserer Verantwortung. Finanz- und Personalausstattung stagnieren.
Der Kampf um Ressourcen und Kapazitäten führt dazu, dass auch unter den Behörden alle ihre Fachbelange immer vehementer vertreten. 
Fachliche Entscheidungen – zum Beispiel in der Mobilitätsplanung oder Bauaufsicht – werden immer häufiger infrage gestellt oder in Misskredit gebracht, etwa durch Gegengutachten. Medien leisten den entsprechenden Beitrag. Das bringt Ansätze für Stimmungsmache und gesellschaftliche Spaltung.

Konstruktiver Streit statt Stimmungsmache

Jeder und Jede steht vor der Herausforderung, das große Ganze mit dem persönlichen Vorteil abzugleichen. Die Politik auf allen Ebenen muss hierzu dringend ihren Beitrag leisten: Wie gelingt es uns gemeinsam, ein Verständnis für das Gegenüber zu schaffen – uns zu lösen von dem Blick auf das eigene Umfeld allein?
Wir benötigen in Coesfeld und in ganz Deutschland eine echte Debatten-, Rede- und Streitkultur! Und die müssen wir wieder lernen. Wir müssen Dinge öffentlich hinterfragen und auch die geliebten, wohlbehüteten und bewährten Schätze auf den Prüfstand stellen.
Wenn ein Aufschrei, Petitionen und Gerichtsverfahren die Diskussionen schon im Keim ersticken, ist ein echter Aushandlungsprozess, ein Abwägen und am Ende ein Kompromiss, womöglich eine gute politische Entscheidung, nicht möglich.

Streit bringt den schönen Schein zur Strecke

Wir haben jahrzehntelang Konflikte gescheut – in den Elternhäusern, in der Öffentlichkeit, auf der großen Bühne. Konflikte und Streit sehen viele als Niederlage, denn der schöne Schein bleibt nicht gewahrt. Wird gestritten, kann es nicht gut sein.
Warum eigentlich? Ist doch die Kultur des Streitens elementar für unsere Demokratie.
Wir sollten streiten, debattieren, andere Perspektiven einnehmen und gemeinsam um die beste Lösung ringen. Wir sollten bereit sein, Fehler einzugestehen, bereit sein für Kompromisse, bereit sein, schnell zu lernen und gemeinsam immer besser zu werden.

Wir sollten die Komfortzone verlassen

Wir sollten uns die Angst nehmen vor Veränderung, vor Verlust von Wohlstand oder Anerkennung. Und wir sollten bereit sein, die Komfortzone zu verlassen, um Komfort zu finden.
Um Dinge zu verändern, müssen wir uns zunächst selbst verändern. In den Familien, in den Verwaltungen und Behörden, in den Unternehmen, in der Politik. Lasst uns mutig sein. Lasst uns den Turbo zünden und unsere Demokratie stärken. 

Eliza Diekmann, Jahrgang 1986, ist seit 2020 parteilose Bürgermeisterin der Stadt Coesfeld im Münsterland. Zuvor arbeitete sie in den Bereichen Journalismus und Unternehmenskommunikation, studierte Publizistik- und Politikwissenschaften, sowie Internationale Kommunikation. Sie ist Mutter von zwei Kindern.

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