Drei Frauen und drei Jahrhunderte in der Gruppentherapie

Pionierinnen. Ein Hörspiel

52:11 Minuten
Bunte, abstrakte Silhoutten von Frauen.
Eine Gruppentherapie der besonderen Art, mit drei Frauen, die glauben, Historisches geleistet zu haben. Sie halten sich nicht für Patientinnen, sondern für Pionierinnen. © imago / Panthermedia / lolloj
Von Ulrich Woelk · 26.12.2022
Audio herunterladen
Anfangs wollen die drei Frauen nicht wirklich reden, dann so viel, dass dem Therapeuten die Ohren übergehen. Patientinnen sind sie nicht unbedingt, Zeitgenossinnen auf keinen Fall: Sie stammen aus drei Jahrhunderten. Ein Mann lernt das Staunen.
Ein steriler Raum mit vier Stühlen, so grau bezogen, dass man die Farbe gleich wieder vergisst. Vier Menschen sitzen, räkeln, lümmeln herum. Einer fragt, drei wollen nicht antworten, tun es dann doch und fragen irgendwann auch zurück. Eindeutig ist nur die Situation: eine Gruppentherapie. Alles andere ist nicht so klar. „Jean oder Jeanne?“ „Jean … nein, Jeanne. Doch lieber Jeanne.“

Verborgen, verschwiegen, verleumdet

Jeanne ist eine von drei Frauen, die nicht immer Frauen waren oder zu sein schienen. Oder zumindest nicht so waren, wie Frauen nach landläufiger Vorstellung zu sein hatten. Das machte ihr Leben zum Abenteuer. Oder es ermöglichte ihnen erst das Abenteuer. Das Abenteuer nämlich, die ersten zu sein, auch wenn sie dafür als Frauen unerkannt bleiben mussten, oder verschwiegen wurden, oder übel verleumdet.
Mit diesem Trio hat es der Gruppentherapeut nicht leicht. Seine professionelle Gelassenheit und Erfahrung helfen natürlich, doch so recht kommt er nicht weiter bei diesen schillernden Wesen. Die Patientinnen glauben nämlich an ihre Erzählungen, nach denen sie einiges – und keine Kleinigkeiten! – als erste getan haben wollen: Sie haben als jeweils erste Frau die Erde umrundet, den Atlantik nonstop überflogen und den amerikanischen Kontinent betreten. Sie halten sich nicht für Patientinnen, sondern für Pionierinnen.

Geschichtslügen und Riesenstatuen

Und damit nicht genug: Sie behaupten auch steif und fest, aus dem 18., dem 20. und dem elften Jahrhundert zu stammen. Nicht sie lügen, die Männer um sie herum tun es! Die Wikingerin Freydís erzählt, dass ihre Gefährten vor den Einheimischen Amerikas geflohen seien und sie allein sich ihnen gestellt habe, nur mit einem Schwert bewaffnet. Das Massaker, das ihr nachgesagt wird, habe sie jedoch nicht verübt. Die Feinde seien panisch geflohen, erzählt Freydís, als sie sich das Hemd vom Leib riss, mit dem Schwert über ihre Brüste strich und einen furchtbaren Schrei ausstieß. Und von wem, Freydís hält den Kopf schief und blickt in die Runde, steht heute in Reykjavik eine Riesenstatue? Von ihrem Bruder.
Identitäten im Mahlstrom der Zeiten und Diskurse.
Ein Hörspiel des Schriftstellers Ulrich Woelk.
Das Manuskript des Hörspiels können Sie hier herunterladen.

Es sprechen Sabine Falkenberg, Inka Löwendorf, Ulrich Noethen und Julia Windischbauer
Ton: Martin Eichberg
Regie: Giuseppe Maio
Redaktion: Jörg Plath
Deutschlandfunk Kultur 2022

Mehr zum Thema