Philosophin Martha Nussbaum

Was tun gegen die Politik der Angst?

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Eine Illustration zeigt einen Mann der unter Sozialphobie leidet.
Angst isoliert, Neid spaltet, Zorn sucht sich einen Sündenbock: Die Philosophin Martha Nussbaum untersucht die Bedeutung von Emotionen für unser Zusammenleben. © Imago / Ikon Images / Stuart Kinlough
Moderation: Christian Möller  · 07.04.2019
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Keine Ethik ohne Emotionen: Die Philosophin Martha Nussbaum erforscht, wie Gefühle politische und moralische Entscheidungen prägen. In ihrem neuen Buch zeigt sie, dass Angst Demokratie gefährdet – und weshalb es dennoch Hoffnung gibt.
Zorn und Vergebung, Stolz oder Scham: Welche Rolle spielen Gefühle in der Politik? Diese Frage beschäftigt Martha Nussbaum seit Jahrzehnten. Die 1947 in New York geborene Philosophin machte sich einen Namen als Theoretikerin der Emotionen. Aber Nussbaum kennt auch die die politische Praxis. Mit ihrem von Aristoteles inspirierten Menschenrechts-Ansatz setzte sie Maßstäbe für die Entwicklungspolitik. Heute gilt die liberale Feministin als eine der einflussreichsten Denkerinnen der Gegenwart.

Angst: ein Urinstinkt mit zwei Gesichtern

Martha Nussbaums jüngstes Buch "Königreich der Angst" ist einem ambivalenten Urinstinkt gewidmet. "In der menschlichen Entwicklung ist Angst die früheste Emotion", sagt Nussbaum im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur. "In der Evolution ist sie das primitivste Gefühl, das alle Wirbeltiere und auch viele Wirbellose empfinden. Angst kann angemessen sein in Situationen, in denen wir bedroht sehen, was uns lieb und teuer ist. Aber sie neigt dazu, sich zu verselbständigen."
Martha Nussbaum steht vor einem Bücherregal und blickt in die Kamera.
Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago.© Robert Tolchin
Angst rüttelt auf. Sie kann uns dazu anstacheln, gewohnte Bahnen zu verlassen und gegen unhaltbare Zustände zu kämpfen. Davon zeugen die Demonstrationen der Schülerinnen und Schüler, die weltweit für Klimaschutz auf die Straße gehen. "Ich möchte, dass ihr in Panik geratet", sagte die Initiatorin der "Fridays for Future" Greta Thunberg auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. "Ich will, dass ihr so handelt, als ob das Haus brennt."

Sehnsucht nach mächtigen Anführern

Als Impuls zum Handeln bewirke Angst durchaus Gutes, gesteht Martha Nussbaum zu. Aber meistens sei sie im politischen Geschehen eine brandgefährliche Emotion: Unkontrollierte oder bewusst geschürte Ängste zersetzen die Demokratie, warnt Nussbaum. Denn Angst appelliere an das frühkindliche Bedürfnis, sich autoritären Anführern anzuschließen: "Babys müssen sich auf mächtige Wesen verlassen. Das ist ein Faktor, der im Leben eines Menschen immer wieder auftaucht und dafür sorgt, dass wir den Trost von anderen suchen – auch von ‚allmächtigen‘ Führern."
Andererseits führe Angst zu einer Überhöhung der Einzelnen, die jeder Gemeinschaft die Grundlage entziehe. Denn im "Königreich der Angst" werden Bürgerinnen und Bürger zu Babys und Babys "zu winzigen Königen", so Nussbaum. Und auf dem emotionalen Niveau von kindlichen Monarchen habe niemand mehr die Neigung, "sich anderen in demokratischer Solidarität anzuschließen." Was bleibe, sei selbstbezogenes Anspruchsdenken und die Tendenz, "andere herum zu kommandieren."

Angst entfacht Wut, Zorn und Ekel

Nach Nussbaums Beobachtung ist Angst ein Basisgefühl, das häufig dazu führt, dass gesellschaftliche Krisen eskalieren. Zerstörerischen Emotionen wie Wut, Zorn und Ekel, sie sich gegen Minderheiten richten, würden durch unbewusste Ängste oft erst angefacht.
"Wenn wir uns hilflos fühlen, sind wir schnell dabei auszuteilen und Sündenböcke zu suchen. Wir wollen irgendjemandem die Verantwortung zuschieben, ob nun wirklich jemand die Schuld daran trägt oder nicht", sagt Nussbaum. "Und dann versuchen wir, diese ‚schlechten Menschen‘ zu bestrafen. Dieser Sündenbock-Mechanismus ist sehr gefährlich. Er kann zu Verbrechen aus Hass führen, zu rassistisch oder religiös motivierten Straftaten."

Den Sündenbock-Mechanismus durchbrechen

In dem verheerenden Anschlag auf zwei Moscheen in Neuseeland am 15. März 2019 kommt für Nussbaum "eine angstgetriebene Wut" zum Ausdruck: "Der Mörder war jemand, der Angst hatte, dass die weiße Rasse verdrängt werden würde, und er hat dieser Angst auf die grausamste Art und Weise Luft gemacht." In der gezielten Herabwürdigung von gesellschaftlichen Gruppen vermische sich Angst mit Ekel, erklärt Nussbaum: ein Ekel, der auf Stellvertreter projiziert werde, bis hin zur Rechtfertigung von tödlichen Angriffen.
Wie aber wäre ein solcher Sündenbock-Mechanismus zu durchbrechen? Nussbaum begreift Angst als komplementäre Emotion zur Hoffnung. Beide Gefühle wurzeln nach ihrem Verständnis in der existenziellen Verwundbarkeit des menschlichen Daseins: "Wenn man Angst hat, denkt man, etwas Schlimmes könnte passieren, das man nicht kontrollieren kann. Bei der Hoffnung denkt man, dass etwas Gutes passieren könnte, das man ebenfalls nicht unter Kontrolle hat."

Angst isoliert und Hoffnung verbindet

Martha Nussbaum schöpft Zuversicht aus einer Maxime des Philosophen Immanuel Kant: Er habe die Ansicht vertreten, "dass wir eine moralische Verpflichtung, die Hoffnung in uns zu pflegen, da wir moralisch dazu verpflichtet sind, Gutes zu tun – aber ohne Hoffnung nichts Gutes tun werden." Nussbaum plädiert deshalb dafür, "Praktiken der Hoffnung" zu kultivieren, mit denen wir uns immer wieder selbst ermutigen können:
"Wenn wir der Angst erlauben, uns zu leiten, dann werden wir weglaufen und denken, dass das jeweilige Problem nicht gelöst werden kann. Aber wenn wir Hoffnung haben, wird uns das die Energie geben, positive Schritte zu unternehmen." Mindestens ebenso wichtig ist der Gesellschaftsdenkerin dabei ein sozialer Mechanismus:
"Angst ist ein sehr isolierendes Gefühl. Aber was die Hoffnung betrifft, liegt ja auf der Hand, dass man sich zusammen mit anderen auf gemeinsame Ziele besinnt."

Martha Nussbaum: Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Krise
Aus dem Englischen von Manfred Weltecke
Verlag WBG Theiss, Darmstadt 2019
304 Seiten, 28 Euro.

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

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