Kommentar zur Organspende-Reform

Wir haben das Recht zu schweigen!

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Illustration. Eine Hand hält eine Lupe hinter der ein Mensch liegt dessen Organe zu sehen sind.
Bloß weil jemand zu Lebzeiten nicht widerspricht, stehen Leber oder Nieren nach dem Tod nicht zur freien Verfügung, meint Arnd Pollmann. © Imago / Malte Müller
Von Arnd Pollmann · 07.04.2019
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Der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will eine Widerspruchslösung für Organspenden einführen. Wer nicht aktiv widerspricht, würde automatisch als Spenderin oder Spender registriert. Der Philosoph Arnd Pollmann hält das für falsch.
Wer regiert, wünscht sich selten Widerspruch. Und so sollte man auch in dieser Woche hellhörig geworden sein: Die von der GroKo vorgeschlagene Widerspruchslösung zu Reduzierung der Organknappheit will ja gerade nicht, dass allzu viele Menschen widersprechen. Im Gegenteil: Nur wenn möglichst wenige dieses Widerspruchsrecht auch geltend machen, wäre dem utilitaristischen Zweck gedient. Die Regierung "rechnet" also mit einer gewissen Bequemlichkeit der noch Unentschiedenen, und schon daran merkt man, dass es sich um einen faulen Trick handelt. Allerdings liegen die entscheidenden Gründe zur Ablehnung der Widerspruchslösung tiefer.

Sex und Eigentum - Wer schweigt, sagt nicht ja

Ich selbst befürworte die Organtransplantation. Ich trage einen Spenderausweis mit mir herum und wundere mich, dass so viele andere Menschen keinen haben. Ich würde eine Regelung begrüßen, die das Recht auf Erhalt eines Organs von der jeweils eigenen Bereitschaft, Organe zu spenden, abhängig macht. Auch wünsche ich mir prinzipiell politische Maßnahmen zur Erhöhung der Spendenbereitschaft. Doch in diesem Fall heiligt der Zweck die Mittel nicht! Und zwar deshalb, weil das regierungsamtliche Ansinnen, ein mögliches Schweigen der Betroffenen fortan als Zustimmung zu werten, übergriffig ist.
Arnd Pollmann schaut freundlich in die Kamera.
Nur Ja heißt Ja: Wer schweigt, stimmt damit nicht automatisch zu, sagt der Philosoph Arnd Pollmann. Schon gar nicht, wenn es um ungebetene Eingriffe in den Körper geht.© privat
Beginnen wir mit der Frage, was es bedeuten würde, wenn wir zukünftig auch im Privaten nach dem Motto verfahren würden: "Wer nicht widerspricht, sondern schweigt, stimmt zu!". Nehmen wir an, eine Person werde gefragt, ob sie ihr Fahrrad verleihen möchte. Eine andere wird mit der Frage konfrontiert, ob sie Sex haben will. Eine dritte Person bekommt wiederholt von einem Online-Versandhaus Waren zugeschickt, ohne diese bestellt zu haben. Sicher, die drei Personen können und sollten widersprechen. Aber müssen sie?

Was wenn die Widerspruchslösung zum Erfolgsmodell wird?

Wer schweigt, mag dafür unterschiedlichste Gründe haben: Vielleicht habe ich nicht richtig zugehört, vielleicht bin ich unwillig, mich mit dieser Frage zu beschäftigen, vielleicht bin ich einfach noch unentschieden. Wer das Fahrrad trotzdem nähme, wer einfach zu fummeln anfangen würde oder weiterhin ungefragt Waren lieferte, wäre deshalb nicht im Recht, sondern verrückt. Schweigen ist auf paradoxe Weise selbst ein kommunikativer Akt: Ich will nicht mit dir sprechen! Das berechtigt mein Gegenüber zu gar nichts.
Bedenken wir, zweitens, dass es in dieser Welt alle möglichen Knappheiten gibt: Geld, Wohnraum, Parkplätze, Nahrung, Zeit, Intimität, bürgerschaftliches Engagement. Eine wohltätige Regierung könnte auf die Idee kommen, aus der Widerspruchslösung ein Erfolgsmodell zu machen. Sie würde einfach davon ausgehen, dass jeder, der oder die zu viel von einer dieser Ressourcen hat, automatisch bereit ist, davon abzugeben, solange er oder sie nicht ausdrücklich widerspricht. Wir wären geradezu ständig damit beschäftigt, uns in irgendwelche Widerspruchsregister einzutragen – und vor allem unentwegt in Panik, irgendeine neue Umverteilungsmaßnahme übersehen zu haben.

Integrität muss eine Selbstverständlichkeit bleiben

Und damit kommen wir zum entscheidenden Punkt: Wenn der Staat Schweigen als Zustimmung wertet, dann zwingt er zum Widerspruch. Er zwingt nicht zur Organspende, das ist klar, wohl aber dazu, sich ausdrücklich weigern zu müssen, falls man nicht dazu bereit ist. Die Spendenbereitschaft wird einfach als "default position" gesetzt: Mit einem Schlag gäbe es knapp 70 Millionen potenzielle Spender über 18. Abgesehen davon, dass dann kaum mehr von einer freiwilligen "Spende" die Rede sein könnte: Der geforderte Widerspruch übernähme so faktisch die Funktion einer Rechtfertigung. Wir müssten ausdrücklich erklären, dass niemand in unseren Körper eingreifen darf. Als wenn das nicht selbstverständlich wäre!
Wir haben das Recht, von derart unerbetenen Eingriffen auch nach unserem Tod unbehelligt zu bleiben. Und wir haben das Recht zu schweigen, wenn wir zu Lebzeiten gefragt werden. Wenn dieses Schweigen Ausdruck von Unentschiedenheit sein kann, dann darf der Staat diese Unentschiedenheit nicht für seine Zwecke als Entschiedenheit werten.

Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin und Mitherausgeber des philosophischen Online-Magazins Slippery Slopes.

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