Oberammergauer Passionspiele

Das Pestgelübde wird gehalten – mit Verspätung

08:37 Minuten
Bei der Fotoprobe zu den 42. Oberammergauer Passionsspiele sind rund zwei Dutzend Menschen auf der Bühne. Jesus hängt am Kreuz, ein römischer Soldat sticht mit einer Lanze in Jesu Brust.
Die Kreuzigungsszene bei den 42. Passionsspielen in Oberammergau: Man müsse aufpassen, dass einem die Füße dabei nicht einschlafen, sagt Jesus-Darsteller Frederik Mayet. © imago / Rudolf Gigler
Von Michael Watzke · 10.05.2022
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Das Dorf wurde erhört und von der Pest verschont: Deshalb spielen die Oberammergauer seit 1634 im 10-Jahres-Rhythmus die Passion Jesu – bis Corona alle Pläne durchkreuzte. Nun geht es auf der Freilichtbühne wieder los, dezente Neuerungen inklusive.
Generalprobe in Oberammergau. „So, erst einmal Grüßgott da unten! Dann fangen wir an! Bitte Ruhe hinter der Bühne, Ruhe in den Seitengängen.“ Passionsspiele-Regisseur Christian Stückl probt den zweiten Teil der sechsstündigen Aufführung.
Bis zur Premiere im ausverkauften Passionsspielhaus mit 4300 Besuchern sind es noch genau vier Tage.
„Im Augenblick ist es so, dass man manchmal denkt: Schaffen wir es? Und am nächsten Tag weiß man: Wir schaffen das! Wir haben es immer geschafft“, sagt Stückl. „Man steht unter einem enormen Druck. Man muss alles zusammenfügen. Aber ich bin guter Dinge!“

Von Gelübden und Nicht-Gelübden

1987 wurde Stückl zum Spielleiter der berühmten, alle zehn Jahre stattfindenden Passionsspiele gewählt.
Normalerweise hätte der Kettenraucher zu Beginn der Probe schon mindestens eine Packung Zigaretten aufgeraucht. Aber nach einem leichten Herzinfarkt im Februar hat der 60-Jährige den Entschluss gefasst, mit den Zigaretten aufzuhören.
Es ist überraschend einfach! Ich lag vier Tage im Krankenhaus und habe mir gedacht: Jetzt höre ich auf! Und seit zehn Wochen geht es“, erzählt er. Aber ein Gelübde sei das nicht: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich es ewig schaffe!“
Christian Stückl, ein 60 Jahre alter Mann, breitet die Arme schwungvoll in Brusthöhe aus. Er hat graue, lockige Haare.
Christian Stückl leitet das große Ensemble. Insgesamt wirken über 2000 Menschen an den Passionsspielen mit, obwohl auch 400 Mitwirkende im Laufe der Pandemie ausgestiegen sind. © Michael Watzke
Ein Gelübde haben die Oberammergauer vor 389 Jahren geschworen. Wenn der Herrgott sie vor der Pest verschone, würden sie alle zehn Jahre die Passion aufführen – also das Leiden Christi in einem Volkstheater- und Singspiel zeigen.

Gelübde von 1633 erstmals als „lebendes Bild“

Den mittelalterlichen Moment dieses hochheiligen Versprechens wollen die Nachfahren dieses Jahr zum ersten Mal mitinszenieren, in einem lebenden Bild, erklärt Barbara Schuster.
„‚Das Gelübde‘ stellt quasi dar, wie wir Oberammergauer 1633 wirklich unser Gelübde geschworen haben. Man sieht auch hier Christus am Boden liegend“, sagt sie. „Denn es wird – auch zum ersten Mal – der Engel, also der Engel-Schauspieler, unser Gelübde nachsprechen. Und das ist ein ‚lebendes Bild‘, das neu ist.“

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Barbara Schuster spielt die Rolle der Maria Magdalena. Eigentlich war die Premiere schon vor zwei Jahren geplant. Aber ausgerechnet Corona verhinderte damals die Aufführung eines Werkes, das vom Ende einer weltweiten Infektionswelle kündet.
„Wir spielen aufgrund einer Pandemie und mussten 2020 aufgrund einer Pandemie verschieben“, sagt Schuster. „Und jetzt, ich meine, das drückt uns ja schon noch rein und begleitet alles. Das ist irgendwie schizophren.“

Ausstiege und Umbesetzungen

Um die Passionsspiele nicht noch einmal absagen zu müssen, treffen die Oberammergauer strenge Vorkehrungen. Alle 2100 Beteiligten – ob Schauspieler, Musiker oder Bühnenarbeiter – müssen sich vor jeder Probe auf Corona testen.
Die Proben haben Christian Stückl mehr als sonst geschlaucht: „Es gab eine ganze Zeit lang bei manchen Leuten den Gedanken, dass wir gar nicht spielen, dass es gar nicht zustande kommt.“
400 Leute seien ausgestiegen und damit seien es 400 Mitwirkende weniger als beim letzten Mal, berichtet er. „Es gab viele Umbesetzungen: Am Anfang dachte ich, es werden drei oder vier, aber dann gab es fast 50. Also wir haben fast noch mal von vorne loslegen müssen.“
Die Impfquote der Passionsspieler liegt in dieser sonst eher impfskeptischen Gegend glücklicherweise bei 95 Prozent.

Mit Jesus durchs Passionsspielhaus

Frederik Mayet spielt in der Passion – wie schon 2010 – die Rolle des Jesus. Kurz vor der Probe führt Mayet über die Bühne und durch das Passionsspielhaus. Es steht mitten im Dorf und hat fast so viele Sitzplätze wie das Dorf Einwohner hat: „Das ist auf jeden Fall eine besondere Bühne, wir haben hier fast 4350 Sitzplätze.“
Auf der Bühne in Oberammergau stehen Dutzende Schauspieler. Das Dach für das Publikum wölbt sich links im Bild, über der Bühne ist der Himmel zu sehen, ganz im Vordergrund Stühle.
Die Gäste haben ein Dach über dem Kopf, über der Bühne gibt es keines.© Michael Watzke
Damit sei sie eine der größten Freiluftbühnen der Welt. „Die Zuschauerränge sind überdacht, aber die Bühne ist Open Air. Man sieht von den hinteren Platzreihen die Berge im Hintergrund“, erzählt er. „Die Bühne hat eine Breite von fast 50 Metern, eine Tiefe von 20 Metern. In der größten Szene sind hier circa 700 Menschen auf der Bühne.“
Und mittendrin wird dann Frederik Mayet als Jesus sein, zuerst mit den Jüngern beim letzten Abendmahl, dann ans Kreuz genagelt.

Mehrere Dutzend Mal gekreuzigt

Die Spieler der Passion sind traditionelle Laien: Der 42-jährige Familienvater wird bis Oktober mehrere Dutzend Mal gekreuzigt.
Auch für ihn ist das eine Tortur. „Das ist keine angenehme Situation, dort am Kreuz zu hängen. Das ist natürlich kein Vergleich dazu, wie es vor 2000 Jahren war.“
Man hänge gesichert mit einem Klettergurt am Kreuz, mit gebogenen Nägeln unter den Armen, fährt Mayer fort: „In der ersten Reihe schaut das schon sehr authentisch aus.“
Man müsse aufpassen, dass die Füße nicht einschlafen, sagt der Jesus-Darsteller, der Klettergurt schneide natürlich auch ein. „Man hängt dann zehn Minuten im Todeskampf sozusagen am Kreuz und hat die letzten Worte.“

„Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

„Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – so wie es in der Bibel steht. Wobei: Von Passion zu Passion verändern sich Nuancen in der Rolle des Jesus und der anderen biblischen Figuren.
Jesus wird diesmal lauter, zorniger sein als vor zwölf Jahren, sagt Barbara Schuster. Auch ihre eigene Rolle der Maria Magdalena hat sich verändert: „Judas fordert ja den Krieg, er fordert von Jesus den Krieg gegen die Römer. Er will sich das Joch nicht aufdrücken lassen.“
Dann sage die Magdalena spontan einen neuen Satz: „'Warum ersehnst du den Krieg, Judas? Uns geht es gut. Wir sind in Frieden, unsere Weinstöcke blühen. Was ist los, warum willst du Krieg?‘ Das passt wunderbar ins Hier und Jetzt!“

Ein Muslim spielt den Judas

Die Rolle des Judas ist in der Passion die schauspielerisch herausforderndste. In diesem Jahr spielt sie Cengiz Görür, ein 22-jähriger Oberammergauer Muslim. Diese Entscheidung von Regisseur Christian Stückl hat im Ort nicht jedem gefallen.
Görür sagt, Stückl habe bei der Besetzung einen untrüglichen Instinkt. „Er hat mich 2016 an einer Eisdiele entdeckt! Er kannte mich schon, 2010 habe ich als Kind bei der Passion mitgespielt. Meine Eltern kannte er auch. Und dann hat er gesagt: Hey du, willst du nicht auf die Bühne mitkommen, jetzt gleich? Wir proben gerade ein Stück, das heißt ‚Kaiser und Galiläa‘.“
Zwei Männer halten ein Plakat in die Höhe, auf dem geschrieben steht: "2022 Passionsfestspiele. Aufruf an die Mitwirkenden an den den Passionsfestspiele 2022. Alle Mitwirkenden und alle KInder, die an den Passionsfestspielen 2022, werden hiermit vom Spielleiter und der Gemeinde Oberammergau aufgefordert, sich ab dem Aschermittwoch , den 17. Februar 202q, die Haare, de Männer auch die Bärte, wachsen zu lassen." Darunter sind drei Unterschriften zu sehen.
Christian Stückl (l.) und Bürgermeister Andreas Rödl mit dem „Haar –und Barterlass“: Am Aschermittwoch im Jahr vor der Passion werden alle Darsteller aufgerufen, sich Haare und Bärte wachsen zu lassen.© picture alliance / dpa / Angelika Warmuth
Das sei dann sein erstes Stück geworden. „Ich habe meine Mutter angeschaut und die hat gesagt: ‚Mach das!‘ Bis dahin hatte ich nichts mit Theater am Hut!“
Seitdem hat Görür die Fachoberschule abgeschlossen und die Aufnahmeprüfung an der Münchner Falckenberg-Schauspielschule bestanden.

Die Zerrissenheit des Judas

Aber diesen Sommer ist er nur mit der Passion beschäftigt. Bei der Premiere am Samstag wird ein Teil seiner Familie im Publikum sitzen.
Die Verwandtschaft in Deutschland und der Türkei sei stolz auf ihn, sagt er. „Ja, auf jeden Fall! Mein Vater wird mit seiner Freundin da sein. Meine Eltern sind seit 2016 geschieden. Meine Schwester und Mutter sind jetzt in der Türkei. Aber sie schreiben mir immer und fragen: ‚Wie läuft’s? Alles gut mit den Proben?‘“
Das Passionsspiel fordert ihn. Er will allen im Dorf und im Publikum zeigen, dass er die richtige Wahl für die Rolle des Judas ist. Sein Ziel: die Zerrissenheit in der Figur des sprichwörtlichen „Verräters“ spürbar machen: „Dieses Kämpferische zu zeigen, diese Verzweiflung zu zeigen.“
„Es ist wirklich eine sehr schwierige Rolle. Man fühlt sich – auch wenn ich selbst Moslem bin – als würde man die Geschichte gerade selber in der Bibel erleben. Das ist wirklich etwas sehr Magisches.“

Touristen aus aller Welt

Magisch sind die Passionsspiele auch für den Tourismus in Oberammergau. Die Gemeinde erhofft sich von der monatelangen Theater-Saison einen Schub an ausländischen Gästen, vor allem aus den USA.
Zwei Jahre Corona-Pandemie haben dem internationalen Fremdenverkehr arg zugesetzt. Anfang Mai waren rund 300 Reise-Experten aus 40 Ländern bei einem Tourismuskongress in Oberammergau. Die Passionsspiele sollen helfen, Deutschland weltweit als Reiseland zu vermarkten.
Wer weiß, vielleicht setzen sie Christian Stückl, bisher der langjährigste Regisseur der Passionsspiele und gebürtiger Oberammergauer, irgendwann sogar ein Denkmal hier. Eine Statue des berühmtesten Dorfsohns – mit oder ohne Zigarette zwischen den Fingern.
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