Patrick Kingsley: "Die neue Odyssee"

Ihre Not ist stärker als unsere Abschottung

Afrikanische Flüchtlinge auf Sizilien sind in Wärmedecken eingehüllt.
Afrikanische Flüchtlinge auf Sizilien sind in Wärmedecken eingehüllt. © picture alliance / dpa / Olivier Corsan
Von Holger Heimann · 21.05.2016
Nicht nur das Mittelmeer, auch die Wüste Sahara fordert Hunderte von Toten, erfährt Patrick Kingsley, der Migrationsreporter der britischen Zeitung "The Guardian". Die neue Odyssee der Flüchtlinge in den Norden sei getrieben von Elend und Verzweiflung.
Der Zug von Millionen gepeinigter Flüchtlinge nach Europa ist zur Chiffre unserer Zeit geworden. Viele Reporter und Autoren waren in den Krisenregionen unterwegs. Aber kaum jemand dürfte genauer recherchiert und kenntnisreicher über die Not der Flüchtlinge, die Skrupellosigkeit der Schlepper und das Versagen der Politik geschrieben haben als der junge britische Journalist Patrick Kingsley.
Sein Buch, für das er drei Kontinente und 17 Länder bereist hat, erzählt von einzelnen Menschen im Strom der Migranten und hat doch das Ganze im Blick. Für die britische Zeitung "The Guardian" ist er schon an der Seite der Flüchtlinge auf Reisen, als in Europa noch kaum jemand das Ausmaß der Tragödie erkennt.

Geschäft der Schleuser mit dem Elend der Flüchtenden

In Libyen trifft er Schleuser, die zu reichen Männern geworden sind. Auf Facebook werben sie ganz ungeniert für die Überfahrt nach Italien "mit einer großen, schnellen Touristenyacht – auch für Familien empfohlen". Von schmucken Schiffen kann aber keine Rede sein. Kingsley erlebt mit, wie eines der seeuntüchtigen, von der Mannschaft verlassen, wie völlig überfüllte Boote geortet und die traumatisierten Passagiere gerettet werden.
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Cover Patrick Kingsley: "Die neue Odyssee"© C.H.Beck
Er trifft in einem Aufnahmelager auf Sizilien einen der wenigen Überlebenden, der knapp dem schlimmsten Schiffsunglück mit 900 Toten entkam. Und er lernt, dass das vom Bürgerkrieg zerrüttete Libyen ein Land zwischen zwei Meeren ist – und dass das Wüstenmeer der Sahara noch mehr Tote unter den Menschen auf ihrem Weg nach Europa fordert. Manche verdursten, andere werden von Banden entführt und umgebracht.

Privater Hilfseinsatz auf den Schleichwegen des Balkan

In Izmir, der türkischen Schlepperhauptstadt, decken sich die Flüchtlinge mit dem Nötigsten ein. Die Schaufensterpuppen tragen hier daher keine Anzüge oder Kleider, sondern leuchtend orange Schwimmwesten. Auf dem Balkan wiederum ist ein Österreicher mit dem eigenen Auto im Dauereinsatz und bringt auf Schleichwegen Flüchtlinge über die Grenzen.
Kingsley ist überall als aufmerksamer Beobachter dabei. Aber nicht allein das ist frappierend, sondern vor allem auch, wie es ihm gelingt, die vielen unterschiedlichen, packenden und berührenden Geschichten zu einer großen Erzählung, tatsächlich einer Odyssee unserer Zeit, zu verweben.
Ein Einzelschicksal wird dabei besonders hervorgehoben und im Buch immer wieder aufgegriffen. Der Reporter begleitet den 40-jährigen syrischen Familienvater Haschem, den Assads Polizei ohne Grund ins Gefängnis warf, bei seiner Flucht bis nach Schweden – immer niedergedrückt von der Sorge zu scheitern, auch noch kurz vor dem Ziel.

Verzweiflung auf der Suche nach dem besserem Leben

Mal tarnt sich der verängstigte Mann deshalb in einem französischen Zug als Leser von "Le Monde", ein andermal – auf dem Weg durch Deutschland – hält er sich die "Süddeutsche Zeitung" vors Gesicht. Diese eindringliche Reportage macht die Verzweiflung der Menschen spürbar, die ihre alte Heimat verlassen, weil sie dort keinerlei Perspektive sehen, oft sogar den Tod fürchten müssen.
Ihre Not, so lehrt das Buch, ist stärker als unsere Abschottung. Sie werden sich deshalb weiterhin auf den Weg machen, auf der Suche nach einem besseren Leben. Wir können die Flüchtlinge nicht aufhalten, sondern uns nur bemühen, ihre Ankunft besser zu organisieren, resümiert Patrick Kingsley. Sein Buch ist ein leidenschaftlicher Aufruf dazu.

Patrick Kingsley: Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise
Aus dem Englischen von Hans Freundl und Werner Roller
C. H. Beck, München, 11. Mai 2016
332 Seiten, 21,95 Euro, auch als ebook

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