Abtreibung

Der Paragraf 218 im Ost-West-Vergleich

29:23 Minuten
Kinderwägen vor einem Blumenladen im Ost-Berliner Stadtbezirk Mitte, 1985.
Ab 1972 galt in der DDR ein liberales Abtreibungsgesetz. Für viele Frauen war damit auch eine selbstbestimmtere Familienplanung verbunden. © picture alliance / dpa / Peer Grimm
Von Linda Peikert · 06.12.2021
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Seit 150 Jahren gibt es den Paragrafen 218, der einen Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellt. In der DDR war eine Abtreibung ab 1972 allerdings legal. Mit der Wiedervereinigung galt der Paragraf für alle. Für viele ein Rückschritt.
Bettina, Kerstin und Therese – drei Frauen, die das Gleiche erlebt haben: Alle drei waren ungewollt schwanger, alle drei haben sich für einen Abbruch der Schwangerschaft entschieden. Etwa 100.000 Frauen und Personen mit Uterus entscheiden sich pro Jahr in Deutschland für eine Abtreibung.
Die einen sprechen ganz offen darüber, andere nicht einmal mit der besten Freundin. Die einen machen sich Vorwürfe, die anderen stellen die Entscheidung nicht infrage. Eine Entscheidung, die immer persönlich ist und individuell. Und bei der Politik und Gesellschaft trotzdem ständig mitreden.

„Diese Frage des Schwangerschaftsabbruches und diese Frage: ‚Wem gehört das Leben?‘, dass das politisch ein so wichtiges und entscheidendes Moment ist – was ist das? Warum definieren sich Gesellschaften über diesen Fakt?“, sagt Bettina.

150 Jahre im Strafgesetzbuch

150 Jahre ist es her, dass der „Abtreibungsparagraf“ 218 im Strafgesetzbuch verankert wurde. Und Schwangerschaftsabbrüche als Straftat definiert werden. Früher drohten fünf Jahre Zuchthaus, heute besagt der gleiche Paragraf:

Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Ich treffe Therese in Köln – zu Hause in ihrer hellen Zweizimmerwohnung in einer eher ruhigen Gegend. Sie ist 30 Jahre alt, ist in Köln aufgewachsen und hat hier auch studiert. 2014 – mitten im Studium – beginnt ihre Geschichte.
„Es hatte eine Zeit gedauert, bis ich das festgestellt hatte, weil ich noch weiterhin meine Tage hatte, ich habe immer ein Kondom benutzt, hab dann aber gemerkt, dass sich mein Körper anders anfühlt.“   
Nachdem ihr Frauenarzt die Schwangerschaft bestätigt, wird Therese schnell klar: Sie möchte kein Kind. Aber: Wer abtreiben will, ohne dafür bestraft oder verurteilt zu werden, muss handeln. Und zwar zügig.  

Der Tatbestand des § 218 ist nicht verwirklicht, wenn:

  1. die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen,
  2. der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird und
  3. seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind.

Beratungsgespräch, verpflichtende Bedenkzeit im Anschluss. Die Schwangerschaft von Therese ist inzwischen vorangeschritten, sie gerät unter Zeitdruck. Mangels Alternative macht sie einen Termin bei einer offiziellen Beratungsstelle mit kirchlichem Hintergrund.
„Ich hatte dann, ich glaube, zwei, drei Tage später den Termin, der meiner Meinung nach nicht sonderlich gut lief. Die Frau an sich war nett und freundlich, die hatte mir generell erst mal alle Möglichkeiten erzählt, die ich hätte, wenn ich mich für das Kind entscheiden würde. Welche Unterstützung ich haben könnte etc.“

Wie das gesetzlich vorgeschriebene Beratungsgespräch geführt werden soll, regelt Paragraf 5 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes:

Die nach § 219 des Strafgesetzbuches notwendige Beratung ist ergebnisoffen zu führen. Sie geht von der Verantwortung der Frau aus. Die Beratung soll ermutigen und Verständnis wecken, nicht belehren oder bevormunden. Die Schwangerschaftskonfliktberatung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens.

Ergebnisoffen und Schutz des ungeborenen Lebens. Das kann sich widersprechen. Die Beraterin fragt Therese, wie sie schwanger geworden sei.

„Ich hatte ihr erzählt, dass ich mir das selber nicht ganz erklären konnte, weil wir eben immer mit einem Kondom verhütet haben. Daraufhin hat sie dann so ein bisschen nachgebohrt und mir letztlich gesagt, dass ich mir unterbewusst das Kind gewünscht hätte, weil ich zu der Zeit an einem Punkt war, wo das Studium nicht gut lief und ich unzufrieden war und dass es deshalb wohl häufiger vorkommen würde, dass Frauen sich dann unterbewusst ein Kind wünschen. Und ich deswegen schwanger geworden wäre.“

Ganz klar, so erzählt Therese, habe sie im Beratungsgespräch gesagt, dass sie sich kein Kind wünscht. Trotzdem habe die Beraterin nicht lockergelassen.
„Als ich dann den Beratungsschein bekommen habe – sie hatte mir gesagt, sie müsste ihn mir ausstellen, weil wir ja diese Beratung hatten. Aber es klang da so durch, als würde sie ihn mir eigentlich nicht gerne geben wollen.“

„Der Staat versucht, diese Notlagen auch anzuerkennen, mit denen zurechtzukommen und für die Schwangeren Verständnis aufzubringen. Allerdings verlangt er dann, dass Schwangere auch darlegen sollen, was ihre Beweggründe sind. Und zwar gegenüber einer staatlichen Stelle. Das ist sehr wichtig, dass diese Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen Stellen sind, die staatlich anerkannt sein müssen.“

Die Macht von Fremdbestimmung

Walter Gropp, pensionierter Juraprofessor, hat viele Jahre wissenschaftliche Kommentare zum Paragrafen 218 verfasst. Der eine Handlungsgrundlage für eine Notlage zu schaffen versucht – und im Gegenzug Rechenschaftspflicht auferlegt. Für Therese aber entsteht diese Notlage erst durch das Beratungsgespräch. Also – ein veralteter Paragraf, der Notlagen schafft? Nein, sagt Gropp:

„Ich würde sagen, der Paragraf 218 ist sicher kein verstaubter Paragraf. Wir haben ja heute pro Jahr etwa 100.000 registrierte und genehmigte Schwangerschaftsabbrüche. Das bedeutet also, dass jedenfalls diese 100.000 betroffenen Frauen ihre Entscheidung ausrichten an dem, was der Paragraf 218 straffrei zulässt.“
Aber das reicht vielen nicht. Denn die jüngere Geschichte des Paragrafen 218 ist auch eine über die Macht von Fremdbestimmung über die Körper von Frauen. Und über die Macht von Tabus.

„Es darf nicht die Frau gezwungen, gedrängt oder bewertet werden, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet. Es muss eine persönliche Entscheidung sein, die sie treffen kann. Und dann muss ihr – in welcher Form auch immer – in allen möglichen Formen geholfen werden.“

Selbstbestimmte Abbrüche in der DDR

Bettina. In den 1970er-Jahren in Rostock aufgewachsen. In dieser Zeit – genau am 9. März 1972 – berichtet der DDR-Rundfunk, dass die Volkskammer das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft angenommen hat. Zur Begründung sagt der damalige Minister für Gesundheitswesen Ludwig Mecklinger:

„Der entscheidende Beweggrund, der Frau das Entscheidungsrecht über die Austragung einer Schwangerschaft zu übertragen, leitet sich aus der in der sozialistischen Gesellschaft realisierbaren Gleichberechtigung der Frau ab. In dieser Konsequenz erfüllt sich gleichzeitig für viele Frauen, Ehepartner und Familien der menschlich verständliche und vom Arbeiter- und Bauernstaat respektierte Wunsch, dass sich die Frau mit Freude und Erwartung auf die Mutterschaft einstellen kann und das Kind mit seinem Eintritt in das Leben von einem Klima des Gewolltseins und einer verantwortungsbewusst vorbereiteten Geborgenheit umgeben wird.“
Eine Frau steht an einem Rednerpult. Mehrere Personen hören ihr zu.
Die Abgeordnete Hildegard Heine stimmt am 9. März 1972 in ihrer Rede vor der DDR-Volkskammer dem Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft zu.© picture-alliance / akg-images / Spremberg
Das Gesetz wird das erste und einzige in der DDR bleiben, das von der Volkskammer nicht einstimmig beschlossen wurde. Es gab 14 Gegenstimmen und acht Enthaltungen. Aber es wird sofort in Kraft gesetzt: Ab März 1972 dürfen sich Frauen in der DDR innerhalb der ersten zwölf Wochen selbstbestimmt für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden.

„Sozusagen ein Geschenk von oben, ein Glück von oben, für die Frauen in der DDR, ein Tag nach dem Internationalen Frauentag, der ja auch immer ordentlich gefeiert worden ist zu DDR-Zeiten. Und ja, ich finde das Gesetz nach wie vor gerade zu mustergültig.“
Jutta Begenau. Anfang der 80er-Jahre arbeitet sie in der „sozialen Gynäkologie“ an der Charité Berlin. Ein interdisziplinäres Team: Zwei Gynäkologinnen, Pflegekräfte, eine Psychologin und sie als Soziologin forschten gemeinsam zu Themen rund um Frauengesundheit und Reproduktion.

„Was ich auch interessant finde an diesem Gesetz: Ich glaube, es sind elf Kapitel oder elf Paragrafen, wo genau festgelegt worden ist dann, was zu machen ist, wer verantwortlich ist, welche Rolle die Leiter von Frauenkliniken haben, welche Rolle die Bezirks- und Kreisärzte haben – so was gab es ja früher – dabeihaben.“

Kurzzeitig mehr Abtreibungen

Schwangerschaftsabbrüche in der DDR verlaufen nach Plan, wenn auch, anfangs, begleitet vom Widerwillen einiger Ärztinnen und Ärzte. Eine Beratung über Alternativen zum Abbruch ist verpflichtend vorgesehen, findet aber oft nicht statt. Es wird ein Termin vergeben, dann folgt ein stationärer Krankenhausaufenthalt von drei Tagen, es gibt ein Gespräch über Verhütung.

Bis zum dritten Monat galten Abbrüche mit dem Gesetz von 1972 als mehr oder weniger unproblematisch. Erst in Fällen, in denen eine Frau eine Schwangerschaft abbrechen wollte, die vor weniger als sechs Monaten schon einmal einen Abbruch oder die die 12. Woche überschritten hatte, wurden Fachleute eingeschaltet.
„Wir hatten zugleich die Kommission für Schwangerschaftsunterbrechungen im Bezirk Mitte. Wir waren sozusagen die Kommission, die Frauen begutachtete und beriet, wenn sie einen Antrag stellten, nach der 12. Woche doch noch eine Schwangerschaftsunterbrechung haben zu wollen. Ich kann mich an keine Ablehnung erinnern, ehrlich gesagt.“

Tatsächlich steigt die Zahl der Abtreibungen im ersten Jahr nach Einführung des Gesetzes um etwa das Fünffache. Später sinken die Zahlen wieder, allerdings auch, weil es durch die – ebenfalls gesetzlich vorgeschriebene – kostenfreie Abgabe von Verhütungsmitteln weniger Geburten gibt. Gegen Ende der 1980er-Jahre wird in der DDR rund ein Drittel der Schwangerschaften abgebrochen.
Dennoch – so heißt es knapp zehn Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes in einer Studie: Die Frauen seien „sehr verantwortungsbewusst“ mit der Regelung umgegangen. Abbrüche seien vor allem von Frauen in Anspruch genommen worden, die schon mehr Kinder als der Bevölkerungsdurchschnitt hatten.

Lebensprägende Erfahrung

Bettina lebt heute ihren Traum: Sie ist Theaterintendantin, wohnt zusammen mit Hund und Partnerin in einer beschaulichen Gegend bei Berlin. 1963 wird Bettina als eins von vier Kindern einer Akademiker-Familie in Wismar geboren. Sie ist 18 Jahre alt, als sie bemerkt, dass sie schwanger ist. Aber sie will studieren. Kritisiert das System. Fragt sich, wie es für sie weitergeht.
„Das waren für mich ganz starke Auseinandersetzungen und Fragen wie: Wie lebe ich in diesem Land? Und wie lebe ich mit dieser politischen Situation?“    

Schnell wird klar: Sie möchte in diesem Lebensabschnitt kein Kind. Bettina wendet sich an ihre Mutter.

„Ich kann mich bis heute sehr gut an die Situation, an das Gespräch erinnern, weil ich überrascht war und erleichtert war, weil das ein sehr gutes Gespräch war und dass ich in meiner Mutter da plötzlich eine Partnerin gefunden habe, die sehr verständnisvoll, sehr offen und sehr – selbst ja Mutter von vier Kindern. Zu ihrer Zeit, als sie uns bekommen hat, gabs die Pille halt noch nicht.
Die Entscheidung: Ich möchte das Kind nicht haben – die war dann ganz klar. Und dass wir dann den Weg zur Frauenärztin, ins Krankenhaus ... Dadurch, dass ich so klar in meiner inneren Entscheidung war, war das dann für mich eine Operation, zu der ich gegangen bin.“
Auch der Ablauf, erzählt Bettina, ist unproblematisch. Sie selbst erinnert sich nicht an schräge Blicke des Pflegepersonals, auch wenn sie weiß, dass es das in der DDR durchaus gab.

„Ich finde es interessant, dass ich schon ab und zu daran denke. Es ist wie so eine dunkle innere Spur, die einfach so liegt. Und als dann meine Geschwister ihre Kinder bekamen, dann habe ich auch immer wieder so daran gedacht. Es kommt ab und zu ein Gedanke: Was wäre, wenn? Aber das ist ohne Schmerz und ohne ‚och Gott, hätte ich doch‘ und dass ich das bereue. Sondern es ist einfach nur so … Es tickt manchmal so wie so eine Uhr im Hintergrund.“  
Selbst über sich und den eigenen Körper bestimmen können: Das ist für Bettina bis heute eine prägende Erfahrung.

„Na ja, dieser berühmte Satz: Mein Bauch gehört mir. Ich habe das an meinem eigenen Leben erfahren, wie toll und wie wichtig das ist, dass man das selbst eben entscheidet. Und natürlich ist das eine große Entscheidung, aber mit 18 kann man das selbst entscheiden.“

Seit der Wende setzt sich Bettina für die Streichung von Paragraf 218 ein. Ihr Wunsch:

„Im Grunde genommen eine Regelung, wie wir sie in der DDR auch hatten, die ich nach wie vor sehr fortschrittlich und auch sehr frauenfreundlich finde.“

Scham und Tabu schaffen Notlage

2014 in Köln, etwa 30 Jahre nach dem Schwangerschaftsabbruch von Bettina. Therese hat den Beratungsschein erhalten und die Anweisungen für einen medikamentösen Abbruch bekommen. Dabei gibt es Komplikationen.

„Ich habe ja erst die Medikamente genommen, die man beim Arzt bekommt, wo das Kind oder das potenzielle Kind dann nicht mehr versorgt wird. Und zu Hause nimmt man dann Medikamente, die noch mal Wehen auslösen. Ich wusste nicht wirklich, wie das abläuft.“       
Therese fühlt sich nicht gut aufgeklärt. Der Frauenarzt sagt zu Therese, sie werde eine leichte Blutung bekommen.

„Mir war aber nicht bewusst, dass dann ziemlich plötzlich – also ich habe dann gemerkt, ich muss auf Toilette – und ja, dass dann auf dem Weg zur Toilette ein sehr großer – ich weiß nicht, wie man es nennen soll – Zellklumpen, geronnenes Blut – dann aus meiner Hose gefallen ist. Womit ich überhaupt nicht gerechnet hätte.“
Für Therese eine Extremsituation: Allein zu Hause, ohne für sie ausreichende Informationen, wie ein medikamentöser Schwangerschaftsabbruch verläuft. Schnell stellt sich heraus, dass es bei Therese zu weiteren Komplikationen kommt: Eine Nachsorgeuntersuchung ergibt, dass die Werte des Schwangerschaftshormons nicht sinken.

„Ja dadurch, dass es kein optimaler Verlauf war und sich das so lange hingezogen hat mit dem, was sie halt vorher gesagt hat in der Beratungsstelle, hatte dann irgendwie dieser Satz, dem ich sonst wahrscheinlich nicht so viel Bedeutung beigemessen hätte, noch mal einen ganz anderen Einfluss auf mich. Dass ich mir unterbewusst das Kind gewünscht hätte.“
Therese geht alleine durch diese Zeit. Die einzige Gesprächspartnerin: ihre beste Freundin.

„Ich denke, es ist schwierig und schambehaftet, darüber zu sprechen, weil es ja irgendwie etwas Verbotenes ist, weil es nicht komplett legal ist in Deutschland.“
Auch, wenn es wegen der Ausnahmeregelungen quasi nie zu einer Verurteilung kommt: Schwangerschaftsabbrüche sind laut Paragraf 218 eine Straftat. Eine verbotene Handlung, die gegen geltendes Recht verstößt, sofern nicht alle Bedingungen eingehalten werden. Das Vergehen schwingt immer mit. Das schafft ein Tabu. Und das Tabu schafft ein Problem. Das Bettina seinerzeit nicht kennenlernen musste.
„Ich habe das nie als tabuisiert empfunden. Es ist eher, dass es eine sehr persönliche Sache ist. Aber als Tabu oder als Verbot oder gar, dass ich das so heimlich machen muss – das habe ich so überhaupt nicht empfunden.“
In der DDR stehen Schwangerschaftsabbrüche ab 1972 nicht mehr unter Strafe. Die andere Rechtslage führt zu einem anderen gesellschaftlichen Umgang mit Abtreibungen.
„Die Regelung eines Sachverhalts im Strafgesetzbuch hat ja schon Signalwirkung", sagt Jurist Walter Gropp. „Dass bei uns der Schwangerschaftsabbruch im Strafgesetzbuch drinsteht, hat den Grund, dass man den Schwangerschaftsabbruch als eine Straftat gegen das Leben betrachtet."

Kampf um liberalere Regelung

Nach der Wende war der Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen im wiedervereinigten Deutschland eins der Themen, über das mit am heftigsten diskutiert wurde. Raus aus der Illegalität? Fristenregelung wie in der DDR, also Straffreiheit in den ersten 12 Wochen? Die Politik entwarf ein erstes Konzept: Fristenregelung ohne Strafgesetz, dafür mit Beratungspflicht. Doch 1995 kassierte das Bundesverfassungsgericht den Kompromiss. Es bemängelte vor allem zwei Punkte. Walter Gropp:
„Der eine Punkt ist der, dass in der Fristenlösung die Beratung, die verfassungsrechtlich unverzichtbar ist, dass diese Beratung dem Verfassungsgericht zu wenig solide ausgestaltet war. Das Verfassungsgericht hat bemängelt, dass man das Vorliegen der Voraussetzungen der Notlage der Schwangeren, dass dieses von einer staatlich anerkannten Stelle dokumentiert werden muss.“

Zum Zweiten beschriebt der Kompromiss den fristgerechten Abbruch eben als nicht rechtswidrig.

„Und in dem Bereich sagt das Verfassungsgericht, wenn etwas nicht rechtswidrig sein soll, dann brauche ich gewichtige Gründe, die die Tötung menschlichen Lebens auf der anderen Seite aufwiegen.“

Sagt Gropp. Resultat: Die Regelung, die wir heute haben.

Schwanger – mitten in der Krise

Frauenbildungszentrum Dresden. Über deren Verteiler lief meine Anfrage nach Gesprächspartnerinnen. Kerstin meldet sich daraufhin bei mir. Das Zentrum ist ein wichtiger Unterstützungsraum für sie, deshalb möchte sie sich hier mit mir treffen. Sie wartet in der kleinen Bibliothek im Hochparterre.

„Das war für mich total schräg. Das fand ich nicht in Ordnung. Und es war auch so eine Antihaltung da. Man projiziert das dann ja auch auf den, der das veranlasst. Also auf den Staat, sag ich jetzt mal so. Für wen hält der sich jetzt eigentlich, dass er bestimmt, dass ich mir da jetzt noch einen anderen anhören muss, um meine Entscheidung zu treffen?“
Auch Kerstin ist in der DDR aufgewachsen, mit dem Wissen, dass eine ungewollte Schwangerschaft im Notfall selbstbestimmt abgebrochen werden kann. Anfang der 90er-Jahre ist sie bereits zweifache Mutter, erlebt die Wendejahre als Zeit der Unsicherheit und Instabilität. Ihr Mann macht sich selbstständig, sie verliert ihren Job. Mitten in der Krise dann der Schock: Sie ist schwanger.

„Auch mein Mann hatte so ein bisschen feuchte Augen. Aber wir haben beide in dem Moment mit dem Kopf geschüttelt, als ich ihm das so zeigte. Das war so: Ich glaube, das wird jetzt alles zu viel. Das wird nichts und so.“       

„Zwangsberatung“ und die Folgen

Kerstin beschreibt sich und ihren Mann als kinderlieb. Später werden sie auch noch ein drittes Kind bekommen, doch inmitten dieser Unsicherheit? Damals keine Option für das Ehepaar. Doch: Paragraf 218 gilt nun in ganz Deutschland. Selbstbestimmt über einen Abbruch entscheiden – das geht jetzt nicht mehr. Kerstin erfährt, dass sie zuerst zum Beratungsgespräch muss.

„Also diese Zwangsberatung! Jeder geht zum Psychologen oder zum Therapeuten oder zur Beratung, weil er für sich entschieden hat: ‚Ich glaub, ich hole mir da noch so einen Erfahrungsträger oder einen dazu, der durch ein gezieltes Gespräch meine Reflexion ankurbeln kann oder mich fördern kann‘. Aber dass ich dazu gezwungen werde! Sonst geht es nicht weiter in dem Prozess!
Das fand ich schon krass. Das fand ich schon heftig. Die Rhetorik habe ich schon so empfunden, dass da auch ein Vorwurf rüberkam. Ich weiß noch, ich habe mächtig dort geweint. Ich konnte mich von Anfang an kaum beruhigen und bin dann auch in die Gegenoffensive gegangen und habe gefragt: ‚Wie können Sie mir quasi wie vorwerfen, dass ich nicht schon alle Register gezogen habe für meiner Entscheidungsfindung'?"
In den Wochen nach dem Abbruch geht es Kerstin sehr schlecht.
„Vielleicht wäre es einfach gewesen, wenn es mir leichter gemacht worden wäre. So wurde ja meine Selbstentscheidungsfähigkeit abgesprochen. Damit habe ich dann auch schneller Selbstzweifel gekriegt.“

Tabus schaffen Notlagen 

Ines Scheibe, aufgewachsen in der DDR, arbeitet seit der Wende in der Schwangerschaftskonfliktberatung und ist Vorsitzende des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung.

„Wir stehen eben für ein freies Leben, dass die Frauen und die Menschen generell selbst entscheiden können, welche Sexualität sie leben und wie sie mit ungewollten Schwangerschaften auch umgehen.“                                                 
Ein Treffen mit Ines Scheibe in der Beratungseinrichtung in Berlin-Prenzlauer Berg. Offiziell ist sie schon in Rente, arbeitet aber noch hin und wieder an Projekten mit. Schnell sind wir beim Thema „Tabu“, das sich durch meine Recherche zieht:
Während die in der DDR aufgewachsenen Frauen mehr oder weniger offen über ihre Schwangerschaftsabbrüche mit mir sprechen, haben sich auch immer wieder Frauen aus Westdeutschland bei mir gemeldet – oft voller Selbstvorwürfe. Ihren Schwangerschaftsabbruch tragen sie seit Jahren als Geheimnis und schmerzliche Erfahrung mit sich herum. Und wollen dann aber vor dem Mikrofon doch nicht darüber sprechen. Immer noch nicht.
„Wenn eine Gesellschaft offen ist für dieses Thema Schwangerschaftsabbruch, wenn das offen angesprochen werden kann, kann das offen verarbeitet werden, dann geht das für die meisten Frauen besser. Wenn es natürlich auch in einer tabuisierten Gesellschaft, wie wir es jetzt erleben, kein Thema sein darf, nicht mal mit der besten Freundin darüber gesprochen wird, was wir häufig in den Beratungsgesprächen hören, dann ist es wirklich das persönliche Problem der Frau. Und wenn man mit niemanden darüber spricht, dann bleibt das im Kopf. Das wird nicht verarbeitet.“
Gerade diese Verarbeitung aber, die offene Auseinandersetzung mit einer Entscheidung wie eben der, eine Schwangerschaft abzubrechen, beeinflusse stark, wie gut – oder schlecht – es den Frauen damit später geht.
„Das ist das A und O. Auch für die psychische Gesundheit später. Für weitere Schwangerschaften. Für das spätere Leben, für das Leben im Seniorenalter. Denn diese Themen, wenn sie unverarbeitet sind, kommen immer wieder hoch. Das hören wir immer wieder.“

Dass Schwangerschaftsabbrüche nach der Wende wieder im Strafgesetzbuch landen, empfindet Ines Scheibe als Rückschritt. Sie ging damals dagegen auf die Straße – und macht es heute immer noch.

„Die ganz wichtigen Forderungen sind: Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs und dass die Verhütungsmittel kostenfrei sind und auch der Schwangerschaftsabbruch ohne Kosten für jede Frau durchgeführt wird.“

Ist eine neue Regelung in Sicht?

Zum 150. Geburtstag des Paragrafen 218 haben die Aktivistinnen des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung eine Kampagne gestartet: „150 Jahre Widerstand gegen Paragraph 218 StGb: Es reicht!“ Außerdem haben sie Unterschriften für eine Petition gesammelt.

„Heute konnten wir verkünden, dass über 96.000 Menschen diese Petition ´Weg mit 218! Raus aus dem Strafgesetzbuch` unterzeichnet haben. Das finden wir großartig!“

Zur Übergabe der Petition vor dem Brandenburger Tor Ende November sind alle demokratischen Parteien eingeladen. Vertreterinnen der SPD, Grünen und Linken sind gekommen. Ricarda Lang, stellvertretende frauenpolitische Sprecherin der Grünen, verspricht Veränderung:
„In Deutschland gab es lange Zeit die Vorstellung, dass mit dem Paragrafen 218 ein gesellschaftlicher Frieden gefunden wurde. Ein gesamtgesellschaftlicher Kompromiss, der für alle funktioniert. Aber dieser Kompromiss hat niemals funktioniert und funktioniert auch heute nicht für die Frauen in diesem Land, für die Menschen, die ungewollt schwanger sind.“
„Die Forderung ´Weg mit Paragraph 218´ ist in der gegenwärtigen Rechtslage naiv. Wenn man so eine Regelung wie in der DDR 1972 heute in Gesamtdeutschland machen würde, hätte die vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand“, sagt Jurist Walter Gropp.
„Sie müssen sich mal überlegen, was würde das bedeuten? Der Paragraf 218 deckt ja eine Entwicklungsphase ab, die beginnt mit der Einnistung des befruchteten Eis in der Gebärmutterschleimhaut und endet mit den Eröffnungswehen. Wenn Sie den Paragrafen 218 abschaffen, würde das bedeuten, Sie könnten ein ungeborenes Kind eine logische Sekunde vor der Geburt töten.“
Es sei denn, es werden ganz neue gesetzliche Regelungen entwickelt, die den Schutz ungeborenen Lebens einerseits und die körperliche Selbstbestimmung von Frauen andererseits noch einmal neu zu fassen versuchen. Der Ampel-Koalitionsvertrag sieht zumindest vor, eine „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ einzusetzen, die Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches prüft.
„Ich glaube, es ist realistisch, dass wir das ganze Thema reproduktive Gesundheit in den Mittelpunkt nehmen können. Ich werde mich dafür auf jeden Fall in den nächsten Wochen einsetzen, weil ich glaube, 150 Jahre Kriminalisierung sind wirklich genug. Die Frauen in diesem Land haben mehr verdient.“

Reaktion: Lydia Heller
Regie: Clarisse Cossais
Technik: Alexander Brennecke
Es sprechen: Bettina Kurth, Linda Peikert und Robert Levin

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