Eine Nachwende-Dorfgeschichte

„Das war ein Zusammenkommen auf Augenhöhe“

30:28 Minuten
Zwei Schafe laufen vor einer Ruine im Dorf Riechheim/Thüringen. Das Werbeschild am Rest des Gebäudes verspricht den Bau von zwei Doppelhäusern im Jahr 2000.
Im Dorf Riechheim gab es nach der Wende Zuzug - im Gegensatz zu vielen anderen ostdeutschen Orten. © picture alliance / Heinz Hirndorf
Von Magdalena Neubig · 28.09.2022
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"Ost" und "West", dazwischen tun sich hierzulande bis heute Gräben auf. Für Magdalena Neubig, Nachwendekind aus Thüringen, spielten die Kategorien sehr lange keine Rolle. Das hat auch viel mit dem Dorf zu tun, in dem sie aufgewachsen ist.
Magdalena Neubig ist aufgewachsen in Riechheim, einem Dorf in der Nähe der thüringischen Landeshauptstadt. Ihre Eltern waren kurz vor ihrer Geburt aus Westdeutschland nach Thüringen gezogen.
„Ich bin ein Nachwendekind, 1993 in Erfurt geboren. Im Osten Deutschlands also. Ich käme allerdings nicht auf die Idee, mich explizit als ‚Ostdeutsche‘ zu bezeichnen“, sagt sie. „Zum Studieren bin ich nach Tübingen und später Hamburg gezogen und nach meinem Abschluss habe ich angefangen, in Köln und Berlin zu arbeiten. An all diesen Orten außerhalb Ostdeutschlands wurde und werde ich immer wieder von den Reaktionen auf meine Heimat überrascht. Die meisten Leute scheinen entweder kaum etwas über Thüringen zu wissen oder vor allem negative Dinge damit zu verbinden.“

„Ossi” oder „Wessi”? Spielte keine Rolle!

Ist Magdalena „Ossi” oder „Wessi”? Die Frage tauchte in ihrer Kindheit gar nicht auf. Erst später wurde ihr klar, dass „Ost” oder „West” maßgebliche Kategorien für das Erwachsenenleben waren. Bei der Frage, warum das für sie in jungen Jahren keine Rolle spielte, stieß sie auf eine bemerkenswerte thüringische Dorfgeschichte im wiedervereinten Deutschland.
Riechheim lag einmal mitten in der DDR. Sehr klein: Etwa 80 Menschen lebten dort, als in Berlin die Mauer fiel. Danach aber wurde der Ort regelrecht überrannt. Aus allen deutsch-deutschen Himmelsrichtungen kamen Leute und kauften Grundstücke. Inzwischen hat Riechheim rund 600 Einwohner. Darunter Magdalenas Familie.

Neue berufliche Perspektive für den Vater

Ihr Vater kommt aus der Nähe von Bayreuth, ihre Mutter ist in Fulda aufgewachsen. Gar nicht so weit weg von Thüringen, aber bis 1989/90 eine andere Welt. Erst nach dem Mauerfall öffneten sich für sie neue Räume.
„Ich konnte mir beruflich einige interessante Tätigkeiten vorstellen. Ich arbeitete ja zu der Zeit für ein Ingenieurbüro, was im Umweltbereich tätig war. Und es gab Vieles zu tun und das Interesse der Bevölkerung der ehemaligen DDR an Verbesserungen im Umweltbereich war sehr groß. Insofern war das schon eine sehr zukunftsträchtige Ausgangsposition“, erzählt ihr Vater.
Ihre Mutter hatte ihr Jurastudium abgeschlossen und ein besonderes Interesse an Thüringen.

Kulturelles Interesse an der Region

„Mich hat auch damals sehr gereizt, dass gerade Mitteldeutschland ja so kulturell und musisch einen extremen historischen Hintergrund hat und Städte wie Weimar oder so, die man vorher nur aus Büchern kannte, einfach auch zu sehen und kennenzulernen.“
Der Vater arbeitete weiter für sein Frankfurter Ingenieurbüro und die Mutter bekam eine Stelle als Staatsanwältin.
Für die Zugezogenen in Riechheim war die Wiedervereinigung eine Möglichkeit, aus freien Stücken einen anderen Lebensweg einzuschlagen. Für diejenigen, die schon immer im Osten Deutschlands gewohnt hatten, ergaben sich zwar auch völlig neue Chancen, aber Unsicherheit und Zukunftssorgen bestimmten erst einmal ihr Leben. Ost oder West: das machte auch in Riechheim einen Unterschied, erfährt Magdalena in Gesprächen mit Ebi, einem Nachbarn ihrer Eltern.

Unsicherheiten und Sorgen der Ortsansässigen

„Man wusste ja nicht, wie geht man mit uns um, weil wir ja DDR-Lehrer waren. Und wir wurden, das war so mein Eindruck, irgendwie als belastet eingestuft, ideologisch belastet.“ Aber er war neugierig darauf, wie im Westen unterrichtet wurde und knüpfte Kontakte zu Partnerschulen in Rheinland-Pfalz.
Ebis Frau Isa war 1989 noch Schülerin in der Oberstufe. Die beiden kannten sich damals noch gar nicht. Die Reisefreiheit fand Isa toll, aber ansonsten war die Wendezeit für sie persönlich eine ziemlich blöde Phase im Leben, wie sie sagt: „Ich bin einfach erst einmal, was meine Zukunft angeht, in ein ziemliches Loch gefallen, weil ich nicht wusste, was ich will. Ich war einfach noch zu viel DDR-Kind, dass ich mich so weit rausgetraut hätte in die Welt und sofort diese neuen Möglichkeiten abgecheckt hätte.“
Von dieser Überforderung nach der Wende erzählen Magdalena auch andere im Dorf. Ost oder West: Das machte auch in Riechheim einen Unterschied. Aber zumindest im Dorf selbst, wo man sich langsam besser kennenlernte, hielt diese Stimmung nicht lange an.

Gemeinschaftliches Denken

„Hier sind einfach Menschen hergekommen, die waren vom Schlag her so, dass sie selber genauso neugierig auf das von hier waren, wie wir auf das von der anderen Seite der ehemaligen Grenze und dass das halt Menschen waren, die zutiefst, ja, wie soll ich das sagen, gemeinschaftlich und fürsorglich füreinander gedacht haben. Da war von Anfang an so ein Zusammenkommen auf Augenhöhe da“, erzählt Isa.
In Magdalenas Erinnerung spielte in Kindheit und Jugend die Herkunft der Leute in Riechheim keine Rolle. „Selbst heute könnte ich bei vielen Familien im Dorf nicht sagen, wer von wo hergezogen ist.“ Und Isa sagt: „Für mich ist Ost-West eigentlich nicht mehr im Kopf präsent. Ich fühle mich dann schon eher als Thüringer oder am allerliebsten eigentlich noch als Europäer. Also ich bin in erster Linie eigentlich Europäerin, würde ich sagen.“
In einer Sache sind Isa, Ebi und Magdalena sich noch einig: Als Wiedervereinigungsmikrokosmos war Riechheim die Ausnahme. Das Dorf ist ein „Meisterstück“ geworden, wie Ebi es nennt, weil dort die Leute hingezogen sind und nicht weg. Im Gegensatz zu vielen anderen ländlichen Regionen im Osten haben sich dort außerdem vorwiegend junge Familien mit vielen Kindern ein neues Zuhause geschaffen. Und die meisten Menschen hatten Arbeit, im Ort selbst oder meistens in Städten wie Erfurt und Arnstadt in der Nähe. Ein, zwei Orte weiter ist die Geschichte zum Teil ganz anders gelaufen. Aber Riechheim: War ein privilegiertes Dorf.
Der Online-Text ist eine kurze Zusammenfassung des Features.

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