Oskar Roehler über seinen Roman „Der Mangel“

„Manche Kinder haben keinen Grund, Gedichte zu schreiben“

18:08 Minuten
Oskar Roehler im weißen Sakko.
Glück und Elend einer Jugend im Abseits: Der Schriftsteller und Filmemacher Oskar Roehler. © picture alliance / POP-EYE
Oskar Roehler im Gespräch mit Frank Meyer · 26.02.2020
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Verwildert, verloren, aber mit viel Raum für eine blühende Fantasie: Oskar Roehler schildert eine Kindheit in den 60er-Jahren. Sein Roman „Der Mangel“ erzählt von der Kehrseite des Wirtschaftswunders – und von der Rettung durch Kunst.
Die Kinder sind weitgehend sich selbst überlassen: Von einem abgelegenen Dorf in der fränkischen Provinz schlängelt sich eine steile Straße hoch in ihre Siedlung. Der Schauplatz von Oskar Roehlers Roman ist eine ärmliche Lebensgemeinschaft von Menschen aus Pommern und Schlesien, die nach dem Krieg in Westdeutschland neu anfangen. Nicht umsonst heißt das autobiographisch geprägte Buch "Der Mangel".

Die Eltern malochen, die Kinder streifen frei umher

Die Eltern schuften den ganzen Tag, die Kinder streunen im Wald umher. Roehler, der ab dem vierten Lebensjahr zunächst bei seinen Großeltern aufwuchs, hat es selbst so ähnlich erlebt:
"Es passte niemand auf die Kinder auf, weil es so unglaublich viel zu arbeiten und zu tun gab. Die Menschen damals sind in der Arbeit erstickt. Die Frauen waren den ganzen Tag damit beschäftigt, Lebensmittel und Wasser heranzuschleppen. Die Arbeit war schlimm, aber wir Kinder waren im Grunde vollkommen frei."

Ein Kosmos mit eigenen Ritualen und Legenden

Die zwiespältige Erfahrung, allein gelassen zu werden und zugleich völlig ungebunden der eigenen Abenteuer- und Entdeckerlust folgen zu können, ist die lebensgeschichtliche Basis, aus der sich Roehlers Roman speist. Wer dem Autor zuhört, spürt heute noch seine Begeisterung:
"Diese grenzenlose Freiheit, mit vier, fünf, sechs Jahren einfach aufzustehen und das gesamte Territorium zu erforschen, da zu verwildern, die eigenen Rituale auszubilden, sich eine eigene Kosmologie fast schon zurechtzulegen: was mit der Sonne ist, was mit den Sternen ist, was im Wald passiert, wenn es dunkel wird, und all diese Sachen, die einem die Fantasie auf eine enorme Art so beflügelt haben."

Schule als autoritäre Zwangsanstalt

In diese Kinderwelt nach eigenem Recht bricht mit enormer Wucht die Schule hinein. Die Institution stülpt den Kindern neue Regeln über, lenkt ihre Freiheit in Bahnen und erstickt ihre Fantasie. Der Roman schildert das als gewaltsamen Akt. Auch dabei schöpft Oskar Roehler aus eigenen Erfahrungen:
"Die Schule in Bayern war Anfang, Mitte der 60er-Jahre ein im Grunde quasi-faschistisches System, ein reaktionäres, brutal autoritäres Regime, dem man sich komplett unterzuordnen hatte. Und wer das nicht gemacht hat, der verzweifelte oder er musste da irgendwie raus."

Befreiende Gegenwelt der Poesie

Im Roman tritt als Gegenbild zu dieser autoritären Zwangsanstalt eine Figur auf, die den Kindern die Schönheit und Kraft der Kunst nahebringt. Noch bevor sie in die Schule kommen, liest ein Nachbar ihnen aus seinen Lieblingslektüren vor. Darunter sind Romane von Franz Kafka oder Thomas Bernhard, Gedichte von John Keats und William Blake.
Die jungen Zuhörer fangen Feuer. Sie erkennen in der Sprache der Erzählkunst und der Poesie eine Chance, zu einem eigenen Ausdruck, zu eigenen Wegen zu finden. Aber Roehler erzählt auch von anderen Kindern, bei denen diese Magie nicht verfängt.

Gefangen in bürgerlichen Konventionen

"Die haben keinen Grund, Gedichte zu schreiben", sagt Roehler. "Die sind so eingebunden in dieses kleinbürgerliche Leben, sind mit den Konventionen so vertraut und in diesem Kontext so gefangen, dass sie sich damit abgefunden haben. Wenn man denen gesagt hat, pass auf, du gehst zur Stadtsparkasse und wirst Kassiererin, dann hat die gesagt: ja – und es war dann auch das, was sie wurde, zu ihrem ganzen Unglück."
Oskar Roehlers Roman ist das Zeugnis eines Widerspenstigen, dem vorgezeichnete Wege immer schon suspekt waren: "Das Paradigma meine Geschichte ist ja das, dass du, wenn du in die staatliche und Obrigkeits-Welt gerätst, die damals noch geherrscht hat, tatsächlich zu einem Untertan erzogen wirst, dass man dich quasi schon auf die Berufe eicht, die der Staat später braucht, nämlich Sparkassenbeamter, Krankenschwester oder was weiß ich."

Allein auf der Suche nach dem eigenen Weg

Diesen vermeintlichen Braten hat Roehler früh gerochen. "Bei mir hat es tatsächlich zu einer Totalverweigerung geführt", erinnert er sich. "Ich bin nicht mehr in die Schule gegangen, habe mich komplett verweigert. Das war mein erster großer Selbstverteidigungsakt." Dafür ist Oskar Roehler einen harten Weg gegangen:
"Ich bin damit auch allein gelassen worden. Statt mir zu sagen, du lernst es schon, und es wird alles gut, hat man zu mir gesagt, du kommst in die Hilfsschule und dann wirst du später auch keinen guten Beruf haben, du wirst ganz unten in der Gesellschaft sein. Das war schon sehr tragisch und auch gruselig für mich."
(fka)

Oskar Roehler: Der Mangel
Ullstein, Berlin 2020
176 Seiten, 23 Euro

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