Originalton

Grandezza

Die Autorin Marjana Gaponenko, Chamisso Preisträgerin 2013
Die Autorin Marjana Gaponenko, Chamisso Preisträgerin 2013 © dpa / picture alliance / Yves Noir
Von Marjana Gaponenko · 08.08.2014
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller bitten. In dieser Woche von Marjana Gaponenko.
Wenn ich jetzt zu dieser späten Stunde an Madame Gros denke, so tue ich das mit Wehmut. Es ist mir, als wäre sie ein vom Aussterben bedrohtes Tier in einem Zoo und ich eine Besucherin, eine von denen, die wissen, dass dieses prachtvolle Exemplar sehr bald vom Antlitz der Erde verschwinden wird. Beneide ich sie, will ich so sein wie sie? Schwierig zu sagen.

Einerseits fällt Madame Gros in den meisten Punkten der charakterlichen Sauberkeit bei mir durch. Geltungsdrang und Geschwätzigkeit – die Übel, die sie an den anderen verachtet, scheint sie selbst in sich zu tragen. Fehlende Empathie, Unaufmerksamkeit und Desinteresse an ihrem Gegenüber, sowie ihre permanente Flucht in die Unpersönlichkeit des Schloßhotels Gottwitz, all das spricht nicht zu ihren Gunsten.

Andererseits muss ich zugeben, dass es etwas an dieser alten Dame gibt, was ihre menschlichen Mängel mildert. Grandezza. Manche verstehen hinter diesem Wort die steife Wichtigtuerei eines Monarchen oder Schauspielers. Manche meinen Seelengröße, wenn sie von Grandezza sprechen. Obwohl ich kein Freund von philosophischen Irrungen bin, glaube ich, dass von einer Grandezza im Sinne einer herausragenden Geisteshaltung niemals die Rede sein kann, wenn die Demut fehlt. Die Demut ist der Kern der Ausstrahlung, die uns majestätisch berührt, die uns aufwühlt und vielleicht ein wenig traurig stimmt.

Was Madame Gros angeht, so sehe ich hinter jeder ihrer Gesten, hinter jedem Seufzer und hinter jedem müden Lächeln die Demut eines resignierten Menschen, der vor der Wirklichkeit längst kapituliert hat, ohne die Schöpfung deswegen weniger zu lieben. Soviel zur Grandezza.

Die Originaltöne kommen in dieser Woche von der jungen, in Odessa geborenen, auf Deutsch schreibenden Autorin Marjana Gaponenko. Sie lebt in Mainz und Wien.

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