Originalton

Im Regen

Die Autorin Marjana Gaponenko, Chamisso Preisträgerin 2013
Die Autorin Marjana Gaponenko, Chamisso Preisträgerin 2013 © dpa / picture alliance / Yves Noir
Von Marjana Gaponenko · 07.08.2014
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller bitten. In dieser Woche von Marjana Gaponenko.
"Ich bin nicht aus Zucker", beteuert Madame Gros zum wiederholten Mal, während wir uns im leichten Regen immer weiter von ihrem Quartier in der Zuckerbäckergasse entfernen. Der Eindruck, den ich von ihrer Behausung davontrage, ist bedrückend, trotz der hohen und tadellos durchlüfteten Räume, trotz der erfrischend gegenstandslosen Malerei an den Wänden und des blau-weißen Schimmerns einer chinesischen Bodenvase im Kamin.
Ich überlege, was das Bedrückende an diesem Ort gewesen sein mag. Vielleicht nur mein Unbehagen, intime Einblicke in die Höhle einer alten Löwin bekommen zu haben. Mein eigenes Fremdsein in einer Welt, die mir nichts sagt.
"Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass wir im Regen um die Häuser ziehen", sagt plötzlich Madame Gros, "ich bin es gewohnt, einmal am Tag meine Beine zu vertreten. Seitdem mein letzter Mann gestorben ist, fühle ich mich unwohl in meinen eigenen vier Wänden. Dabei habe ich ein elegantes Zuhause. Tja, vielleicht zu elegant, mein eigentliches Wohnzimmer ist seit Jahren der Wintergarten im Schloßhotel. Da lese ich meine Zeitungen und ärgere mich über die Menschheit. Die Bedienung ist reizend, die Gäste sind es auch. Die meisten sind in meinem Alter, so um die fünfzig."
Ohne Madame Gros anzuschauen, weiß ich dass sie mir eben einen prüfenden Seitenblick zugeworfen hat. "Wie alt würden Sie mich schätzen?", fragt sie mich herausfordernd. "46?" "Sie scherzen!" Madame Gros gibt ein heiseres Lachen von sich und zieht es vor, ihr Alter nicht zu verraten. Ich aber weiß laut meiner gestrigen Recherche im Internet, dass die Operndiva sage und schreibe 64 Lenze zählt. "Abgesehen von einigen Flachpfeifen ist das Publikum im Schloßhotel durchaus erträglich", trällert sie weiter, "wir schweigen gut mit einander, gepflegte Gespräche führen nur die ganz Verzweifelten. Selbst die mit Geltungsdrang haben genügend Anstand, sich mit der jungen Bedienung zufrieden zu geben, die Jugend ist geduldig. So leben wir vor uns hin ..."
Vor einem Briefkasten bleiben wir stehen, und ich sehe zu, wie Madame Gros aus ihrer veilchenfarbenen Handtasche einen Brief herausholt. "An einen Verehrer. Längst fällig", sagt sie, lächelt zerstreut in die Ferne und schiebt den Brief in den Schlitz des Briefkastens.

Die Originaltöne kommen in dieser Woche von der jungen, in Odessa geborenen, auf Deutsch schreibenden Autorin Marjana Gaponenko. Sie lebt in Mainz und Wien.

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