Orhan Pamuk: „Die Nächte der Pest“

Großer historischer Pandemie-Roman

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Das Cover zeigt den Autorennamen und Buchtitel auf rotem Hintergrund. In der Mitte ist ein gemaltes Bild einer Stadt am Meer zu sehen.
© Hanser Verlag

Orhan Pamuk

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier

Die Nächte der PestHanser, München 2022

694 Seiten

30,00 Euro

Von Dirk Fuhrig · 14.02.2022
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Historisch und doch aktuell: Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk hat bereits lange vor Covid-19 einen Roman konzipiert, der die Auswirkungen einer Seuche auf Politik und Gesellschaft detailreich, packend und wirklichkeitsnah schildert.
Die Pest bricht aus. Auf den Straßen liegen tote Ratten, dann werden immer mehr Menschen infiziert, bei denen Beulen am Hals und in der Leistengegend auftreten. Die Behörden reagieren erratisch und panisch, Ärzte werden als Überbringer der schlechten Nachricht bedroht und ermordet. Die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen – muslimische Türken und christliche Griechen – beschuldigen sich gegenseitig. Die Anordnungen zur Quarantäne werden widerwillig oder gar nicht befolgt.

Hellsichtige Vision vom Pandemiegeschehen

„Leute, haltet so viel Abstand wie möglich!“ Dieser Aufruf der Mingerner Seuchenbehörde kommt einem heute sehr bekannt vor. Es ist verblüffend, wie genau der Literaturnobelpreisträger die Reaktionen von Bürgern und Verwaltung in einer medizinischen Katastrophe solchen Ausmaßes beschreibt.
Quarantäne, Absonderung, strenge polizeiliche Überwachung, die Uneinigkeit über die Maßnahmen, finanzielle und persönliche Interessen, all das kommt in diesem herausragenden Roman zur Sprache. Einschließlich der Leugnung des Virus, der Zurückweisung wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Hingabe an Wunderheiler und Aberglaube.

Fiktive Insel, historische Pest

Die dritte Pestpandemie grassierte zwischen 1894 und 1911, die Krankheit verbreitete sich von China aus vor allem in Asien, aber auch bis nach Europa. Orhan Pamuk siedelt seinen Roman auf der fiktiven Mittelmeerinsel Minger an, irgendwo zwischen Kreta und Rhodos. Protagonistin ist die Prinzessin Pakize Pascha, die während der Quarantäne mit ihrem Ehmann, einem Seuchenforscher, in Minger festsitzt. Sie schreibt Briefe an ihre Schwester in Istanbul, die von ihrer Urenkelin später ediert werden.
Parallel zur Pandemie zeichnet sich der Zerfall des osmanischen Reichs ab: Dem mit brutaler Härte regierenden Herrscher Abdülhamit II. gelingt es nicht, das Imperium zusammenzuhalten. Franzosen und Engländer, schließlich auch die Deutschen, dringen immer weiter nach Osten vor und zwingen dem Sultan Schutzbündnisse auf.

Minger als Labor für Seuchenbekämpfung

Minger ist dabei eine Art Labor nicht nur für die Seuchenbekämpfung, sondern auch für das konfliktreiche Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen. Auf der Insel zirkuliert Fortschritt aus dem Westen, als medizinisches Wissen oder in Form von Luxusprodukten, die etwa aus dem berühmten Kaufhaus „Bon Marché“ in Paris importiert werden: Rosenwasser und Arzneien, das sind die Verlockungen Europas für die fortschrittlich denkenden Mingerer.
Der muslimische Teil der Bevölkerung bleibt überwiegend traditionellen Lebensweisen verbunden, ist schicksalergeben und lässt sich auch von der Quarantäne nicht von Pilgerreisen nach Mekka abhalten.

Versuch einer Nationenbildung

In seinen knapp zwei Dutzend Romanen hat Orhan Pamuk immer wieder die tatsächliche oder vermeintliche Trennlinie zwischen Orient und Okzident abgeschritten. „Die Nächte der Pest“ ist ein brillant geschriebenes, üppig und ausschweifend erzählendes Buch über eine verheerende Pandemie, aber auch eine Mentalitätsstudie und eine historische Betrachtung über die Auflösung des osmanischen Reichs.
Und dazu noch eine Utopie über den Versuch einer Nationenbildung über Grenzen von Religion und Herkunft hinweg, denn das „Mingerische” als Sprache und Heimat könnte die widerstreitenden Bevölkerungsgruppen versöhnen. Und damit auch den „Osten“ und den „Westen“ zu einem größeren Europa vereinen.
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