Olaf Bernau: "Brennpunkt Westafrika"

Fluchtursachen ganzheitlich verstehen

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Das Buchcover zeigt eine Straßenszene in einer afrikanischen Stadt, wo sich viele Autos und Menschen in der Straße drängen, am Rand ist eine Art Markt.
© C.H. Beck

Olaf Bernau

Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollteC.H. Beck, München 2022

307 Seiten

18,00 Euro

Von Moritz Behrendt · 16.05.2022
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„Fluchtursachen bekämpfen“ – kaum eine Debatte zur Migration kommt ohne dieses Schlagwort aus. Aber selten wird der Kontext dieser Fluchtursachen berücksichtigt. Der Soziologe Olaf Bernau, seit Jahrzehnten in Westafrika aktiv, holt das nach.
Unterwegs zu sein, ist für viele Westafrikaner eine Normalität. Das war es schon, bevor in den letzten Jahrzehnten die Migration nach Westeuropa an Bedeutung gewonnen hat, ja bereits bevor die europäischen Mächte ihre kolonialen Strukturen zwischen dem Senegal und Nigeria etabliert haben.
Für Nomaden, Wanderprediger, muslimische Handelsreisende, Saisonarbeiter, für Pilger oder auch Hausangestellte im nächstgelegenen Ort war Mobilität seit Jahrhunderten ein Teil der Lebensrealität.

Migration zulassen

Dem Soziologen Olaf Bernau ist es ein Anliegen, in seinem Buch „Brennpunkt Westafrika“ ein umfassendes Bild der Fluchtursachen aus Westafrika zu zeichnen. Mit historischer Einordnung, politischer und ökonomischer Analyse sowie Ausflügen in Kultur und Literatur gelingt ihm das hervorragend.
Bernau ist als Aktivist für bäuerliche Gemeinschaften seit mehr als zwei Jahrzehnten regelmäßig in Westafrika unterwegs, das merkt man seinem Buch an: Hier schreibt jemand mit viel Herz für die Region und viel Ahnung von seinem Thema.
Seine wichtigste Empfehlung an Entscheidungsträger in Europa: Lasst Migration zu, und zwar so, dass die Menschen erhobenen Hauptes wieder zurückgehen können in ihre Herkunftsländer! Das hilft beiden Seiten.
„Zu gehen bedeutet, sich zu beweisen – zurückzukehren, die Seinen mit dem Wissen zu bereichern, das man in einer anderen Welt erlangt hat“, zitiert er den senegalesischen Journalisten Tidiane Kassé.

Klimakrise, Wirtschaftskrise, Islamismus

Bernau ist allerdings weit davon entfernt, die Ursachen und Folgen der Flucht schönzureden. Ihn stört es nur, wenn in der Politik Schlagworte wie die „Bekämpfung der Fluchtursachen“ fallen, ohne den Kontext zu berücksichtigen. Dieser Kontext ist für ihn eine „Vielfachkrise“, die sich seit den 1980er-Jahren verschärft hat und unter der alle 16 Staaten der Region mit ihren 377 Millionen Einwohnern leiden, auch wenn sich die Ausprägungen im Dorf in Burkina Faso deutlich unterscheiden von denen in der nigerianischen Metropole Lagos.
Und so beschränkt er sich nicht auf die Migration selbst, sondern beschreibt, wie sich der Klimawandel auf die ländliche Bevölkerung auswirkt, zeigt die Folgen verheerender wirtschaftspolitischer Entscheidungen auf und analysiert dschihadistische Bewegungen in Nigeria oder Mali. Interessant: Dort, wo diese heute ihr Unwesen treiben, waren häufig schon im 19. Jahrhundert Islamisten aktiv.

Viele Probleme wurzeln in der Kolonialzeit

Für viele aktuelle Probleme sieht Bernau die Ursachen in der Kolonialzeit, auch weil die meisten westafrikanischen Staatschefs nach der Unabhängigkeit keinen strukturellen Neuanfang gewagt haben. Bei der Kritik am Kolonialismus bleibt Bernau zum Glück nicht an Schlagworten hängen. Die oft geschmähte koloniale Grenzziehung ist so für ihn ein kleineres Problem als die Bevorzugung der Küstengebiete zulasten der ländlichen Binnenregionen.
Punkt für Punkt arbeitet sich Bernau an den Problemen ab. Für längere erzählerische Passagen fehlt dabei leider häufig der Raum. Aber auch so entsteht ein differenziertes Bild, das hilft, Westafrika umfassend zu verstehen.
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