Nordkirche: So verschieden und doch so ähnlich

Von Brigitte Lehnhoff · 26.05.2012
In der Nordkirche schließen sich erstmals Landeskirchen aus dem Westen und dem Osten zusammen. Kann das funktionieren bei so unterschiedlicher Geschichte? Wir haben drei Gemeinden zwischen dem äußersten Osten und dem äußersten Westen der neuen Nordkirche besucht.
Ein Donnerstagmorgen, zwanzig vor acht. In wenigen Minuten beginnt der Unterricht an der Kooperativen Gesamtschule in Ahlbeck auf Usedom. Für 20 Schüler des elften Jahrgangs beginnt der Tag mit dem Wahlpflichtfach Religion bei Pfarrer Beyrich.

"Ich habe Religion gewählt, weil ich glaube, dass es ein Teil unserer Geschichte ist und ich glaube, dass man auch in der heutigen Zeit viel über Religion wissen muss und deswegen glaube ich, dass Religion wichtiger ist als Philosophie."

So wie Sven denken in diesem Oberstufenkurs die meisten Schüler: Religionsunterricht ist interessant im Sinne von Wissenserwerb – mehr nicht. Konstantin findet das irritierend. Er ist zugezogen aus Nordrhein-Westfalen und hatte auch dort in der Schule Religionsunterricht bei einem Pastor.

"Unser Pastor hat damals immer versucht, uns auch an die Gemeinde zu binden, hat uns dann zu bestimmten Veranstaltungen eingeladen, ich weiß nicht, wie das hier ist, aber das habe ich so noch nicht hier erlebt und das ist eigentlich immer so der Unterschied, also der hat uns immer so ein bisschen neugierig gemacht auf Bibelabende und Kirchenkreise."

Beyrich: "Das ist interessant, dass du sagst, du vermisst sozusagen die engere Verknüpfung zwischen Kirche und Schule, die ich ja leisten könnte als Pfarrer, aber ich möchte nicht, dass ihr den Eindruck bekommt, der macht jetzt hier Kirche in der Schule. Ja auch im Kontext der Schule ist es wichtig, dass ich da so eine Rolle spiele, weil manche Lehrer sagen auch, was soll hier ein Pastor in der Schule, wir wollen hier doch staatlichen Unterricht machen und nicht irgendwie kirchlich beeinflusst werden. Und da muss ich auch klar Kurs halten und sagen, hier in der Schule bin ich Lehrer."

Tilman Beyrich ist Pfarrer der Pommerschen Kirche in Heringsdorf auf Usedom. Er teilt sich die Pfarrstelle mit seiner Frau und unterrichtet zweimal wöchentlich Schüler der Klassen 7 bis 12 im Fach Religion. Die späten Früchte der kirchen- und religionsfeindlichen DDR-Politik erntet der Theologe fast täglich. Unausgesprochene Vorbehalte sorgen für eine spürbare Distanz, gerade auch im Kontakt zu Mitarbeitern kommunaler Einrichtungen.

"Es gibt in bestimmten Milieus ganz starke Zurückhaltung gegenüber Kirche. Und das sind manchmal die Horteinrichtungen oder die Kindergärten, die kommunalen, auch in einem Lehrerkollektiv in der Schule erlebe ich das, darüber bin ich dann traurig, wenn man das spürt, dass da eine völlig unnötige Abgrenzungsstrategie manchmal gefahren wird."

Im westlichen Teil der neuen Nordkirche, also in Schleswig-Holstein und Hamburg, ist die evangelische Kirche zwar noch selbstverständlicher Teil des öffentlichen Lebens. Sie hat aber seit 1977 ein Drittel ihrer Mitglieder verloren, heute sind es noch knapp zwei Millionen. Und die stehen in ihren Gemeinden vor wachsenden Herausforderungen.

"Einmal. – So, mal langsam. – So, ich hab Grund. – Ja? Nun erst mal zwei Schritte laufen. – Danke schön. – Schön langsam."
Hiltrud Barthelmes ist Mitarbeiterin der evangelischen Kirchengemeinde St. Severin in Keitum auf Sylt. Mit einem kleinen Bus hat sie Senioren abgeholt, die nicht mehr gut zu Fuß sind, aber am wöchentlichen Mittagstisch der Gemeinde gern teilnehmen möchten.

Sechs Tische sind im Gemeindesaal gedeckt, 20 Gäste sind gekommen, zumeist ältere Frauen und Männer.

"Dass man mit Menschen zusammenkommt vor allen Dingen. Weil man sich sonst in der Woche ja auch nicht viel trifft und wir finden das schön, hier hinzugehen und die Gemeinschaft ist es eigentlich sonst trifft man sich einfach im Dorf auch nicht so viel wie früher. Da hatte man mehr Clubs und traf sich zum Kartenspielen und dies und das, und das ist ja jetzt auch nicht mehr so."

Der demografische Wandel ist längst auch in den Kirchengemeinden angekommen. Die Menschen werden immer älter, traditionelle soziale Strukturen lösen sich jedoch auf. Junge Leute ziehen der Arbeit hinterher, die Alten bleiben zurück. Dieses Phänomen hat in Mecklenburg-Vorpommern in ländlichen Kirchengemeinden bereits tiefe Spuren hinterlassen. Und auch St. Severin in Keitum auf Sylt erlebt Landflucht, allerdings eine ganz spezielle Variante.

Pastor Jörg Reimann rollt auf einem großen Tisch zwei Plakate aus. Fotos, Texte und Computeranimationen dokumentieren die Pläne für ein Mehrgenerationen-Wohnprojekt.

"Die Ausgangssituation, warum Kirche sich an ein Mehrgenerationenwohnprojekt herantraut und umsetzt ist, dass die Menschen hier keinen bezahlbaren Dauerwohnraum mehr finden. Im letzten Jahr haben 500 Familien die Insel verlassen, es gibt drei- bis fünftausend Menschen, die jeden Tag vom Festland auf die Insel pendeln, um hier zu arbeiten, dort zu wohnen, denn hier wird es immer schwieriger. Weil so viele Häuser genutzt werden für Zweitwohnungsbesitzer und für Ferienvermietung, damit geht Wohnraum auf der Insel verloren. Und natürlich gehen uns auch die Gemeindemitglieder auf die Art und Weise verloren. Und es kann ja nicht sein, dass man an so einem wunderbaren Ort arbeitet, aber keine Möglichkeit mehr besteht, hier auch zu leben."

Nach ökologischen Standards bauen, bezahlbaren Wohnraum schaffen, Generationen zusammenbringen: Diese Ziele verfolgt die Kirchengemeinde mit dem Wohnprojekt. Die Europäische Union findet das förderungswürdig und zahlt den Löwenanteil. Der Rest soll sich aus den künftigen Mieteinnahmen finanzieren. Die Gemeinde kann als Kapital nur eine unbebaute Kirchenwiese einbringen, denn ihr Haushalt ist knapp kalkuliert. Demnächst wird noch weniger Geld in der Kasse sein, weil die Kirchengemeinden in Schleswig-Holstein und Hamburg 3,9 Prozent ihrer Einnahmen an die Kirchengemeinden in Mecklenburg und Pommern abgeben. Was die finanziell zu stemmen haben, beschreibt Pastorin Cornelia Seidel am Beispiel der Kirchgemeinde Strelitzer Land im Südosten von Mecklenburg.

"Wir haben in unserer Gemeinde 15 Dörfer, elf Kirchen und Kapellen und zehn Friedhöfe. Es ist sehr viel Verwaltungsaufwand, Diskutiererei über Friedhofsunterhaltungsgebühren und abfallende Regenrinnen an Kirchdächern und diese Dinge nehmen ganz schön viel Zeit in Anspruch und auch Kraft."

Was früher fünf Pastoren geleistet haben, müssen heute zwei schaffen. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen steht trotz allem ganz oben auf der Agenda.

"Es ist natürlich so, dass die Kinder den Nachwuchs für die Gemeinde bilden, also die Junge Gemeinde darstellen und dass sie, wenn sie auch vielleicht in Zukunft die Gegend hier verlassen, weil einfach die meisten jungen Leute hier weggehen, Kirche in Erinnerung haben als Heimat, als Anker, das ist uns wichtig."

Jeden Dienstagabend trifft sich im Diakonie- und Gemeindezentrum in Neustrelitz die Junge Gemeinde, Jugendliche im Alter von 14 bis 18, die bereits konfirmiert sind.

"Also wir treffen uns und dann machen wir erst zusammen Essen, oder ein paar von uns, und dann essen wir zusammen und dann haben wir meisten verschiedene Themen ... da suchen wir uns immer was zusammen, was wir machen wollen."

Heute warten die Jugendlichen gespannt auf einen Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt Neustrelitz.

"Wir machen hier Antiaggressionstraining, wie es das sonst eigentlich nur bei Knastis gibt... - Bei Gefängnisinsassen. - Ja, bei Gefängnisinsassen, also ein Antiaggressionstraining, ... wovon man schon viel gehört hat, worunter man sich aber nicht viel vorstellen kann, finde ich zumindestens. Und so finde ich das spannend, eben solche Themen zu besprechen."

Allerdings bleiben die Jugendlichen mit diesem spannenden Thema quasi unter sich, in ihrem eigenen Milieu. In der Jungen Gemeinde treffen sich zurzeit nur Gymnasiasten. Das entspricht dem Trend der letzten Jahre, sagt Pastorin Cornelia Seidel.

"Ob man das gut findet oder nicht, ist eine andere Frage, aber die traditionell kirchlichen Leute sind eben Eltern, die ihre Kinder zur Musikschule und zum Gymnasium und zum Konfirmandenunterricht und sowas schicken, das gehört so dazu."

Zwar betonen Pastoren der nordelbischen Kirche, mit dem Konfirmandenunterricht noch Jugendliche aller Schichten zu erreichen. Aber in vielen anderen Gemeindegruppen ist die sogenannte Milieuverengung nicht zu übersehen. Auch im Westen ist Kirche weitgehend zu einer Mittelschichtsveranstaltung geworden.

Die pommersche, die mecklenburgische und die nordelbische Kirche haben zwar eine unterschiedliche Geschichte. Heute aber stehen sie vor denselben Problemen: Mitgliederschwund, Geldmangel und gesellschaftliche Marginalisierung. Diese Probleme können sie vielleicht mit Gewinn gemeinsam bearbeiten. Das jedenfalls ist der Grund, warum vor allem die Evangelische Kirche in Deutschland, die EKD, das Projekt Nordkirche forciert hat. Ob die neue Landeskirche dann wirklich für ein gleichberechtigtes, ost-westdeutsches Miteinander steht? An der Basis, vor allem bei den knapp 300.000 evangelischen Christen in Mecklenburg und Pommern, gibt es daran Zweifel.

Gemeindemitglied aus Heringsdorf: "Also ich denke mal, dass für die kleine pommersche Kirche das die einzige Möglichkeit war zu überleben, in der Gemeinschaft der Nordkirche, rein finanziell gesehen. Die Frage ist, wie viel in Zukunft die pommersche Kirche zu sagen hat innerhalb der Nordkirche. Ich denke, dass Nordelbien dort relativ stark durchregieren wird. Weil sie halt die Zahlungsstärksten sind und Mitgliederstärksten."

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