Norddeutschlands größte Sondermülldeponie

Was tun mit dem Gift am Ihlenberg?

15:58 Minuten
Mondlandschaft: Ob es zu drastischen Überschreitungen von Grenzwerte auf der Ihlenberger Deponie kam, ist ungeklärt.
Mondlandschaft: Ob es zu drastischen Überschreitungen von Grenzwerte auf der Ihlenberger Deponie kam, ist ungeklärt. © picture alliance / dpa / Bernd Wüstneck
Von Silke Hasselmann · 18.04.2019
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Giftige Schlämme, Lacke, hochbelasteter Industrieschutt: In Norddeutschland ist nur die Deponie Ihlenberg berechtigt, besonders gefährliche Abfälle anzunehmen. Seit einigen Monaten sorgt ein Prüfbericht über Grenzwertüberschreitungen für Unruhe.
Wer auf der B 104 nach Lübeck fährt, passiert unweigerlich den Ihlenberg zwischen Selmsdorf und Schönberg. Zu riechen ist hier nichts, und zur Straße hin zeigt er eine grüne Grasoberfläche. Doch ganz Norddeutschland lässt Sondermüll der höchsten Klasse für oberirdische Deponien hierher bringen. Ebenso Berlin, Brandenburg und Dänemark.
Denn im Norden ist nur die Deponie der "Ihlenberger Abfallentsorgungsgesellschaft IAG" berechtigt, auch besonders "gefährliche Abfallstoffe" anzunehmen. Darunter asbesthaltiges Dämmmaterial, dieselverseuchte Böden, hochbelasteter Industrie- und Bauschutt, Lacke, schwermetallhaltige Industrieaschen. 19 Millionen Kubikmeter Sondermüll türmen sich mittlerweile hundert Meter hoch. Doch viele Selmsdorfer gehen gelassen damit um, auch Pamela Blank.
"Ich wohne 500 Meter von der Deponie entfernt und kann eigentlich nichts Negatives sagen. Weder Geruchsbelästigung noch irgendwas anderes", sagt sie. "2016 haben wir das Haus neu gebaut und fühlen uns da sehr wohl. Ich bin Selmsdorferin und mit der Deponie groß geworden. Die Deponie war schon immer da."
Am 30. Januar 1979 beschloss das SED-Politbüro offiziell die Gründung des volkseigenen Betriebes "VEB Deponie Schönberg" im damaligen innerdeutschen Sperrgebiet. Gegen harte Devisen nahm sie alle möglichen Sonderabfälle aus dem Westen entgegen und lagerten sie auf einem Boden ohne weitere Folien-Basisabdeckung, berichten die beiden heutigen Geschäftsführer Beate Ibiß und Nobert Jacobsen während einer Deponiebesichtigung.

Niemand weiß genau, was in den 80er-Jahren gelagert wurde

Die 6,5 Kilometer lange Ringstraße führt uns zunächst zum Deponieabschnitt 1. Er stammt aus DDR-Zeiten, wird seit 2005 nicht weiter befüllt und soll bald endgültig abgedichtet werden. Norbert Jacobsen erklärt, was hier unter den Übergangsfolien und Grünstreifen liegt:
"Also, das sind tatsächlich im Wesentlichen alles Industrieabfälle, Hausmüll, Abfälle aus der Altlastensanierung, Schlacken, Aschen. Also alles das, was auf eine gemischte Siedlungsabfall- und Sonderabfalldeponie gelangen kann. Wir haben eine maximale Ablagerungshöhe genehmigt bekommen. An der Oberkante des Abfallkörpers darf er eine maximale Höhe von 118 Metern über Null aufweisen. Das bedeutet, dass dann mit der endgültigen Oberflächenabdichtung und der Regulierungsschicht, die dann darüber angeordnet ist, ungefähr eine maximale Höhe von 121,5 Metern über Normalnull entstehen wird."

Der Blick vom Plateau des alten Deponiebereiches ist atemberaubend. Im Norden glitzert die Ostsee. Knapp zehn Kilometer westlich: die sieben Türme von Lübeck. Ansonsten rundum Felder, Windräder, Dörfer. In die tiefen Schichten des Deponiekörpers hingegen kann niemand schauen. Keiner wisse zu 100 Prozent, ob und was hier womöglich in den 80er-Jahren und kurz nach der Wende heimlich verklappt worden ist, sagt der studierte Ingenieur. Aber:
Blick auf die Deponie, die im Gegenlicht glitzert
Vom höchsten Punkt der Deponie hat man einen fantastischen Ausblick.© Deutschlandradio / Silke Hasselmann
"Ich will mal so sagen: Wir wissen über die Abfallkataster, die schon damals angefertigt worden sind, und über die Annahmeprotokolle, die erstellt wurden, welche Abfälle ungefähr wo abgelagert worden sind. Wir wissen ganz genau, dass es eben auch sehr viele Industrieabfälle sind, die sehr sorgsam zu behandeln sind und wir deswegen auch sehr achtgeben müssen, dass das Sickerwasser nicht unkontrolliert in die Umgebung austritt. Welche einzelnen chemischen Parameter dann gegebenenfalls noch drin sein könnten, ist fast schon nicht mehr relevant, weil wir über die Umkehrosmose-Anlage alle relevanten Schadstoffe herausholen können."

Langsam fahren, um Staub zu vermeiden

"Außer Tritium." Was es mit dem radioaktiven Tritium und dem Sickerwasser auf sich hat, wird mir Beate Ibiß an anderer Stelle genauer erklären. Vorerst macht mich die Co-Geschäftsführerin auf die vielen "Tempo 30"-Schilder an der Deponiestraße aufmerksam.
"Hier sehen Sie auch: Das langsame Fahren hat auch was mit Staubvermeidung zu tun."
Staubvermeidung sei ein Top-Thema für die Deponiebetreiber, denn viele Schadstoffe haften an den schwebenden Staubpartikeln und könnten so über Haut und Lunge in den Körper gelangen. Es geht um Schwermetallverbindungen, Benzol oder um polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe wie Naphthalin, die in Erdöl und Kohle vorkommen und Krebs erregen.
Die beiden Geschäftsführer der Deponie: Beate Ibiß mit kurzem dunklen Haar und Brille trägt eine orangene Warnweste. Ihr Kollege Norbert Jacobsen steht in gelber Warnweste daneben.
Beate Ibiß und Norbert Jacobsen sind die Geschäftsführer der Deponie.© Deutschlandradio / Silke Hasselmann
Beate Ibiß zeigt auf eine Halde, auf der Radlader, Raupen und Kipper wie geschäftige Ameisen umherkrabbeln. Sie bauen frische Abfälle in ungefähr vier Meter mächtigen Schutzschichten ein und bewegen viel Erde und Baustoffe. Wer dort arbeitet, sitze in Kabinen mit Filtergebläse und trage Schutzanzug. Zudem immer dabei: Wasserwagen.
"Wir fahren mit eigenen Wasserwagen auf die Deponie. Nicht nur im Sommer übrigens, sondern ständig, um die größtmögliche Bewässerung durchzuführen, sodass es so wenig wie möglich staubt. Die Aschen zum Beispiel, die wir annehmen, gehen in Silos, sodass überhaupt kein Staub erzeugt werden kann, und dann vom Silo auf die Deponie, indem es mit Brauchwasser gemischt wird, wo es als eine Art Schlamm eingebaut wird."
Dennoch ist Staub nie ganz zu vermeiden, zumal auf den offen liegenden Abschnitten. 2015/16 ließ die Geschäftsführung über 12 Monate hinweg Staubemissionen in Deponienähe messen. Ergebnis: Die Konzentration von Arsen bis Zinn entsprach "überwiegend" dem, was man in "typischer ländlicher Umgebung" einatmet. Doch das beruhigt nicht jeden.

Der Ehemann der Ministerpräsidentin erhebt schwere Vorwürfe

"Tagesordnungspunkt 17: Prüfbericht zur Annahme von belasteten Abfällen zur Deponierung am Standort Ihlenberg vom 10.09.2018. Verfasser: Stefan Schwesig. Ja, dann begrüße ich die Deponie-Leitung…"
Als der Selmsdorfer Bürgermeister vorigen Dezember zur öffentlichen Gemeindevertreterversammlung ruft, ist auch Uwe Lüth zur Stelle. Er möchte von den beiden geladenen IAG-Geschäftsführern hören, wie die Annahme des Sondermülls funktioniert. Denn kurz zuvor hatte der sogenannte "Schwesig-Bericht" viel, nun ja, Staub aufgewirbelt. Der frühere IAG-Innenrevisor Stefan Schwesig wollte unter anderem eine Gefährdung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes auf der landeseigenen Deponie festgestellt haben und teils so hohe Grenzwertüberschreitungen bei Cadmium, Zink und Kupfer, dass viele Mülllieferungen gar nicht hätte angenommen werden dürfen.
Schon bald wurden Stefan Schwesig etliche fachliche Fehler nachgewiesen. Ein neuer "Giftmüllskandal Ihlenberg" blieb aus. Doch Uwe Lüth, der 1,5 km Luftlinie von Norddeutschlands größter Sondermülldeponie entfernt wohnt, versteht eines nicht: Warum gab es ausgerechnet im supertrockenen Jahr 2018 keine Luftmessungen rund um die Deponie?
"Wenn Ostwind ist und der Staub, der durch Fahrzeuge und Baumaßnahmen da oben wie auch immer in Bewegung gesetzt wird, der weht ja ins Land. Und wir als direkte Anwohner fragen uns natürlich, ob wir draußen in Ruhe sitzen können, ohne unsere Gesundheit zu gefährden, ob wir unser Gemüse, das wir anbauen, essen können. Denn wir sind im ländlichen Bereich, wir haben auch ein bisschen Kleintierzucht. Wir haben Bienen und sonst was alles. Kann man das ohne Gefahr verzehren?"
Geschäftsführer Jacobsen verspricht auf der Gemeinderatssitzung eine Staubemissionsmessung für 2019. Die Selmsdorfer Gemeindevertreter beschließen einen Antrag, mit dem sie das Land auffordern, die Ende 2000 abmontierte behördliche Luftmessstelle wieder auf der Deponie anzubringen. Zudem kündigt der Bürgermeister für Januar eine Einwohnerversammlung zur Sondermülldeponie Ihlenberg an. Geladen würden sämtliche entscheidenden Personen. Auch Stefan Schwesig.

Ab Herbst wird wieder gemessen

Zwischenstand ein knappes halbes Jahr später: Die Einwohnerversammlung kam nicht zustande. Schwesig, der Ehemann der Ministerpräsidentin, entzieht sich bis heute den Fragen beunruhigter Einwohner, ratloser Deponie-Mitarbeiter wie auch von Journalisten.
Der Gemeinderatsbeschluss zum Wiederanbringen der behördlichen Luftmessstelle ist laut Ministeriumspressestelle "weder im Ministerium für Umwelt und im Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie bekannt noch wurden von dort konkrete Forderungen an die Häuser gestellt."
Die IAG-Geschäftsführung hingegen hält ihr Versprechen. Ab Herbst wird eine neue 12-monatige Staubemissionsmessung rund um die Deponie beginnen.
"Wir gehen uns jetzt mal Sickerwasser angucken…"
Wir sind angekommen an großen rechteckigen Speicherbecken, und Beate Ibiß empfiehlt:
"Einfach mal riechen. Tief Luft holen! Normalerweise müssten wir hier viel riechen, denn hier steht das Sickerwasser. Und das stinkt ja doch sehr heftig."
"Aber es ist sehr unauffällig jetzt?"
"Hier außen schaffen wir es durch die Schwimmabdeckung, dass wir die Geruchsemissionen weitestgehend im Griff haben. Denn unter der Schwimmabdeckung haben wir das Rohsickerwasser, wo wir dann unter der Abdeckung die Abluft abziehen und über die Abluftbehandlungsanlage so reinigen, dass sie keine Gerüche mehr auf die Umgebung abstrahlt".

Über 100.000 Liter hochbelastete Sickerbrühe

Sickerwasser entsteht zwangsläufig bei jeder Abfalllagerung. Oft reagieren Abfälle miteinander und suppen aus. Zum anderen dringen Regen und Schnee in den Deponiekörper und reichern sich auf dem Weg Richtung Boden mit wasserlöslichen Schadstoffen an. Über 100.000 Liter hochbelastete Sickerbrühe am Ihlenberg - und nichts davon darf ins Grundwasser gelangen.
Dafür sorgt eine vollautomatische, computergesteuerte Reinigungsanlage, die hörbar unter Hochdruck arbeitet. Am Ende bleiben 15 Prozent des braunen Rohsickerwassers als belastetes Restkonzentrat an den Filtermembranen hängen. Die restlichen 85 Prozent fließen als klares, aber fast schon totes Wasser Richtung Biotop am Rande der Deponie.
"Und ist so stark demineralisiert, dass wir das erst mal wieder remineralisieren müssen, damit da ausreichend Nährstoffe und Mineralien enthalten sind, damit es dann für die Natur auch wieder bekömmlich ist."


"Und in der Mitte vom Biotop da hinter dem Zaun, da ist der Landesforst. Und da geht das dann über in das natürliche Oberflächenwasser."

Das Problem: diese hochmoderne Reinigungsanlage filtert alles aus dem giftigen Sickerwasser. Nur das Tritium nicht. Tritium ist die einzige radioaktive Wasserstoffvariante und hat eine Halbwertzeit von 12,3 Jahren. Schon immer wird es im gereinigten Sickerwasser gemessen und gelegentlich sogar im Oberflächenwasser auf umliegenden Äckern. Deponiechefin Ibiß tritt dem Gerücht entgegen, das Tritium könnte aus heimlich verklapptem Atommüll aus dem ehemaligen Kernkraftwerk Lubmin stammen. Nein, so Ibiß: Die Fässer aus Lubmin enthielten ungefährliches Material.
Ein kleiner Bach schlängelt sich durch eine verwilderte Wiese, im Hintergrund stehen Bäume.
Biotop am Rande der Deponie: Das Wasser, das von der Deponie kommt, ist so stark gefiltert, dass es remineralisiert werden muss.© Deutschlandradio / Silke Hasselmann
"Wir haben freigemessene Abfälle aus Lubmin bei Greifswald, ja. Und 2018 waren das unter 40 Tonnen, wenn ich das richtig im Kopf habe. Und es sind keine radioaktiven Abfälle, wie man sich das landläufig vorstellen würde. Sondern das sind freigemessene."

"Sogar für Kleinkinder unbedeutende Dosis"

Laut einem Gutachten von 2015 stammt "das Tritium im gereinigten Sickerwasser mit überwiegender Wahrscheinlichkeit aus weggeworfenen Konsumgütern wie Armaturen und Uhren mit Leuchtfarben", sogenannten "Beta-Lights". Die zusätzliche Strahlenbelastung für Personen, die sich ein Jahr lang ausschließlich von Obst, Gemüse, Getreide, Milch und Fisch ernähren würden, welche mit dem gereinigten, aber noch tritiumhaltigen Sickerwasser in Berührung kamen, liege laut Modellrechnung bei höchstens 0,88 Mikrosievert - eine "sogar für Kleinkinder unbedeutende Dosis".
Das "Gutachten der IAG stützt seine These zur Beurteilung des radioaktiven Tritiums auf die Strahlenschutzverordnung." Die entspreche jedoch "nicht dem Stand der Wissenschaft, sondern den Erkenntnissen der 1970er/80er Jahre", widerspricht die Bürgerinitiative "Stoppt die Deponie!" Mitbegründer Hedlef Uilderks - einst aus Schleswig-Holstein nach Selmsdorf gezogen - kämpft auch im Deponiebeirat als Vertreter des Bundes für Umwelt und Naturschutz dafür, dass am Ihlenberg bald Schluss ist mit der Giftmüllannahme.
"Diese Deponie hat noch nie ein Planfeststellungsverfahren mit einer Umweltverträglichkeitsprüfung gehabt. Hier sind noch nie Bürger beteiligt worden an diesem ganzen Berg, der da oben liegt. Und keiner weiß, was da alles drin schlummert. Muss man da einen Ort, der eine unglaubliche Last die letzten vierzig Jahre getragen hat - muss man das weiterbetreiben? Ich finde nicht."

Forscher sollen die Krebsrate in 10 Kilometern Umkreis ermitteln

Doch es tut sich einiges. Laut Gerichtsbeschluss darf die geplante multifunktionale Abdeckung des alten Deponiebereiches durch neu aufgetragenen Sondermüll nur nach einem Planfeststellungsverfahren genehmigt werden. Das bedeutet Umweltverträglichkeitsprüfung samt öffentlicher Beteiligung. Umweltverbände wie Bürgerinitiativen haben ihren Fuß in der Tür.
Das Schweriner Wirtschaftsministerium legte diese Woche endlich den Prüfumfang für die längst beschlossene dritte Krebs-Studie fest. Greifswalder Forscher sollen die Krebsrate im Deponieumkreis von zehn Kilometern erfassen, was neben Selmsdorf und Schönberg erstmals auch die Stadt Dassow sowie drei Lübecker Stadtteile umfasst.
Und schließlich arbeitet ein Sonderbeauftragter der Landesregierung derzeit an einem konkreten Schließungskonzept für den landeseigenen Entsorgungsbetrieb, der allein voriges Jahr 600.000 Tonnen Sondermüll annahm. Die Hälfte davon gefährliche Stoffe, sagt Deponiechef Norbert Jacobsen zum Ende unserer Tour.
"Nehmen wir mal an, wir würden in 30 Jahren hier entlang spazieren. Was wäre dann anders?"
"Ich muss überlegen: Dann hätten wir 2049. Dann wäre meine Hoffnung, dass wir in dreißig Jahren als Gesellschaft keine DK-III-Produkte mehr produzieren. Dann könnten wir nämlich langsam darüber nachdenken, dass man eine Deponie wie unsere überhaupt nicht mehr betreibt. Wenn wir aber so weiterwirtschaften wie bisher, dann brauchen wir auch so eine Deponie, wenn unsere Konsumgüter zu Abfall werden, die diese Schadstoffe wieder aus dem Wirtschaftskreislauf herausholt und dann sicher für Mensch und Umwelt deponiert, dass sie eben keinen Schaden anrichten können."
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