Giftmüll vor der Haustür
Bauschutt, Krankenhausabfälle oder Industrierückstände: 4000 Tonnen Sondermüll werden täglich aus ganz Europa zur Entsorgung nach Selmsdorf in Mecklenburg-Vorpommern gebracht. Welchen Gefahren die Anwohner ausgesetzt sind, ist umstritten.
Ein Dezemberabend 2018. Sanfter Regen und mondlose Dunkelheit hüllen Selmsdorf ein. Auch die Ernst-Thälmann-Straße, die von Einfamilienhäusern gesäumt ist. Pamela Blanks Familie wohnt im letzten Haus der Straße und damit so nah an der Sondermülldeponie Ihlenberg wie niemand sonst.
"Ja, ich wohne 500 Meter von der Deponie entfernt und kann eigentlich nichts Negatives sagen. Weder Geruchsbelästigung noch irgendwas anderes. 2016 haben wir das Haus neu gebaut und fühlen uns da sehr wohl. Ich bin ja mit der Deponie großgeworden. Bin Selmsdorfer, und die Deponie war schon immer da."
Abfall aus Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen
"Schon immer" heißt: seit Ende der 70er-Jahre. Damals kam die Devisen-Beschaffungsabteilung des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit, die "Kommerzielle Koordinierung", gemeinsam mit Abfallexperten aus Bad Schwartau auf die Idee, hier in unmittelbarer Grenznähe eine Sondermüll-Deponie einzurichten, die fortan vor allem belastete Abfälle aus Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen aufnahm. Das ist bis heute so, wobei auch Berlin, Brandenburg und einige europäische Lieferanten Sondermüll auf dem Ihlenberg loswerden.
Sehr zum Verdruss von Hedlef Uilderks von der Bürgerinitiative "Stoppt die Deponie!": "Ich habe die mitgegründet damals, als sie die Müllverbrennung machen wollten. 2000 wollten die hier eine Müllverbrennungsanlage errichten. Und die waren sehr überrascht, als Leute hier sagten: 'Bitte bei uns nicht!' Weil: Das kannten die hier nicht."
Der drahtige Mitfünfziger zählt zu jenen Altbundesbürgern, die nach der Wiedervereinigung hierher nach Mecklenburg gezogen sind und Selmsdorfs Einwohnerzahl von rund 700 auf 3000 wachsen ließen. Noch lange kein Beweis für die Unbedenklichkeit der angrenzenden Riesendeponie, findet Hedlef Uilderks, der auch im Deponiebeirat als Vertreter des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) für ein baldiges Ende der Sondermüllannahme kämpft.
"Diese Deponie hat noch nie ein Planfeststellungsverfahren mit einer Umweltverträglichkeitsprüfung gehabt. Hier sind noch nie Bürger beteiligt worden an diesem ganzen Berg, der da oben liegt. Und keiner weiß, was da alles drin schlummert. Muss man da einen Ort, der eine unglaubliche Last die letzten 40 Jahre getragen hat, muss man das weiterbetreiben? Ich finde nicht."
Derweil rollen unentwegt LKWs von der Bundesstraße 104 aus direkt zur Annahmestelle der Ihlenberger Abfallentsorgungsgesellschaft. Wie weiland ein Grenzübergang ist der beschrankte Zugangsbereich stets hell erleuchtet. Bis vor kurzem wurde hier jeder 125. LKW daraufhin kontrolliert, wie belastet der mitgeführte Müll tatsächlich ist. Neuerdings wird jeder 30. LKW beprobt. Kommt er aus Italien, ist sogar jede Ladung dran.
Noch Platz für sieben Millionen Kubikmeter Sondermüll
Ob Straßenabbruch oder Bauschutt, schwach radioaktiver Krankenhausmüll oder Industrierückstände, ob ölverseuchte Erde oder gewerbliche Abfälle - laut IAG-Internetseite kommen hier Tag für Tag durchschnittlich 4000 Tonnen Sondermüll an. Darunter bis auf Asbestschlämme auch "gefährliche Stoffe" - sprich: giftige, radioaktiv strahlende oder sehr leicht brennbare. 19 Millionen Kubikmeter Sondermüll lagerten hier bereits. Für sieben Millionen Kubikmeter sei noch Platz.
Selmsdorf, Lübecker Straße 35. In der geräumigen und bestens ausgestatteten Feuerwache ziehen sich die 40 Freiwilligen Feuerwehrmänner und -frauen für ihr heutiges Training um. Bereitwillig erzählen sie über ihr Leben neben der größten norddeutschen Giftmüll-Halde.
"Die Stimmung ist auf jeden Fall geteilt, weil welche halt nichts gegen die Deponie haben und welche sind natürlich absolute Gegner. Da frage ich mich aber, warum solche Leute zu einer Deponie hinziehen. Ich lebe unweit der Schule, und das ist ja auch ungefähr ein Kilometer Luftlinie. Ich lebe seit 40 Jahren hier und mich stört die Deponie nicht."
"Martina Hahn. Wir wohnen in Lauen, das ist ein Ortsteil kurz vor Lübeck. Ich bin aus dem Westen hierhergezogen zu dieser Deponie. Mich hat sie in dem Moment nicht gestört und belastet."
"Ich bin Jannik Jesemann. Ich bin 18 Jahre alt. Ich wohne auch schon immer in Selmsdorf. So einen Kilometer, schätze ich mal, davon entfernt. Mich stört das wirklich nicht. Ich mein´: Jeder produziert Müll, und dass der irgendwo gelagert werden muss, ist ganz klar. Und wenn man hierherzieht, weiß man, dass hier eine Deponie ist. Wenn man das nicht weiß, hat man wohl irgendwie etwas verpasst, denke ich mal."
Was niemand hier verpasst hat: Die Deponie am Ihlenberg steht seit Mitte November wieder in den Schlagzeilen: "Droht ein Giftmüll-Skandal in MV?" heißt es da. "Zu viel Giftmüll oder nicht?" und "Affäre um Giftmüll: Was bleibt an den Schwesigs hängen?" Der Anlass: Ein kritischer Prüfbericht, verfasst vom Ehemann der Ministerpräsidentin Manuela Schwesig. Doch der Reihe nach.
Pressekonferenz mit drei Landesministern
14. November 2018, Finanzministerium Schwerin. Gleich drei Landesminister - zuständig für Finanzen, für Wirtschaft und für Umwelt - sitzen in der eilig anberaumten Pressekonferenz. Außerdem: Landrätin Kerstin Weiss.
"Ja, meine Damen und Herrn, die Deponie Ihlenberg, wie sie ja so schön heißt, liegt auf dem Gemeindeterritorium der Gemeinde Selmsdorf und damit auf dem Territorium des Landekreises Nordwestmecklenburg. Wir haben also die Ehre, die als größte Giftmüll-Deponie Europas verschriene Deponie auf unserem Territorium zu haben, was uns nicht besonders glücklich macht."
Noch unglücklicher stimmt die Landrätin ein elfseitiger Prüfbericht vom 11. September 2018. Den hatte IAG-Abteilungsleiter Stefan Schwesig ohne Wissen der Geschäftsführung verfasst und unmittelbar danach um die Beendigung seiner 14 Jahre dauernden Abordnung gebeten.
Der Ex-Finanzbeamte gehörte in den letzten fünf Jahren der IAG-Geschäftsführung an und war zuständig für Innenrevision und für Compliance, also für rechtstreues Wirtschaften des Deponiebetreibers. Insofern habe es keines gesonderten Auftrages bedurft, sagt Finanzminister Matthias Brodkorb (SPD) und ergänzt erkennbar vorsichtig:
"Dass aus Sicht eines Landesbediensteten, der dort tätig ist für uns, Hinweise bestehen, dass vielleicht bei dem Müll, der angenommen wird, hin und wieder Grenzwert-Überschreitungen auftreten, über die zu diskutieren wäre. Dieser Bericht ist dann dem Aufsichtsratsmitglied aus dem Finanzministerium übergeben worden. Dieser wiederum hat das dem Aufsichtsratsvorsitzenden der IAG zur Verfügung gestellt, um dieser Frage nachzugehen und einen Klärungsprozess herbeizuführen."
Verdacht auf Überschreitung der Grenzwerte
Zwei Monate dauert es, bis die Öffentlichkeit zum ersten Mal davon hört. Die bestens informierte "Schweriner Volkszeitung" zitiert aus dem Schwesig-Bericht. Auf der Deponie Ihlenberg seien im Untersuchungszeitraum von Ende Juni 2017 bis Anfang Juli 2018 "mehr Giftstoffe wie Blei und Quecksilber eingelagert (worden), als vertraglich mit den Müllieferanten vereinbart". In 30 bis 40 Prozent der Fälle sei es zu Grenzwertüberschreitungen der "Deponieparameter" gekommen: bei Cadmium um das 37-fache, bei Zink um das 95-fache.
Der Gesundheits- und Arbeitsschutz für die Mitarbeiter sei gefährdet. Die Kontrolle würden zu selten und dann auch noch in vorhersehbaren Abständen durchgeführt. Zudem gebe es immer noch kein Konzept für die Schließung der Sondermüll-Deponie.
Die Geschäftsleitung erwidert in ihrem Bericht an den Aufsichtsrat, der Innenrevisor habe "grundsätzliche betriebliche abfallrechtliche Prozesse und vor allem die geltende bundesgesetzliche Deponie-Verordnung ignoriert sowie die kritisierten Sachverhalte unrichtig und unvollständig dargestellt."
"Wir werden das aufklären. Brutalstmöglich, diesen Begriff habe ich mir zu Eigen gemacht. Und wir werden Ihnen das auch darstellen", verspricht Umweltminister Till Backhaus (SPD) eilig, während der für die Fachaufsicht zuständige Wirtschaftsminister Harry Glawe von der CDU überfordert wirkt von der komplexen Materie.
Er will Entwarnung für Anwohner wie Mitarbeiter geben, kann aber nicht schlüssig erklären, warum. Das externe Gutachten, das die Landesregierung im September in Auftrag gegeben hat, um Schwesigs Vorwürfe zu prüfen, liegt zu diesem Zeitpunkt noch nicht vor. Dennoch sagt der Minister bereits: "Wir gehen davon aus, dass keine Rechtsverstöße festzustellen sind. Es wäre ja auch ein Unding, wenn sozusagen Rechtsverstöße festgestellt werden sollten."
Das Sickerwasser ist besonders stark belastet
Auch der Selmsdorfer Tom Seib hat die Berichte genau verfolgt - und wundert sich. Der junge Mann ist auf der Deponie zuständig für das Sickerwasser der Müllberge. Das sei besonders stark belastet und werde deshalb mit modernsten technischen Verfahren und mehrfachem Sicherheitspuffer behandelt, sagt Seib. Wie alle 130 Deponiemitarbeiter sei er natürlich besonders daran interessiert, dass das Arbeiten auf der Deponie Ihlenberg nicht krank macht, gar schleichend tötet. Doch er vertraue der Deponieleitung und nicht dem Bericht von Ex-Abteilungsleiter Schwesig, der ein Mann der Finanzen sei.
"Ich sag mal so: Unsere Sickerwasser-Aufbereitungsanlage und da, wo meine Abteilung ist als Wasserwart, ist hinter dem Berg, wenn man es von Selmsdorf aus sieht. Und ich habe Herrn Schwesig eigentlich gar nicht gesehen da unten. Und wenn ich Zweifel an irgendwas habe oder sage 'Ach, da läuft was nicht, die Mitarbeiter sind nicht genug geschützt', dann muss ich doch den Weg gehen, die Mitarbeiter anzusprechen und zu sagen: 'Mensch, fühlt ihr euch hier sicher, dass ihr gefährdet seid oder so? ' Daraus hätte man da ja schon direkt erfahren können. Also wie gesagt, ich habe da keine Zweifel: Sauber, es wird viel Wert in den Arbeitsschutz gelegt. Und deswegen fühle ich mich echt sicher eigentlich."
29. November 2018. Der beauftragte Abfallentsorgungsfachmann von der Berliner Kanzlei GGSC stellt erste Ergebnisse seines Gutachtens über die Vorwürfe an die Deponiebetreiber vor.
"Die Berechnungen der Innenrevision treffen nicht zu"
Er glaube, sagt Achim Willand, dass der frühere Innenrevisor in einigen wesentlichen deponietechnischen Fragen "fehlgeleitet" war. So habe Herr Schwesig Sollwerte zugrunde gelegt, die in der IAG-Datenbank hinterlegt waren. Doch maßgeblich für die Frage, ob die Deponie die jeweiligen Sondermüll-Lieferungen annehmen darf, seien laut der Deponieverordnung die sogenannten Zuordnungskriterien. Die wiederum liegen vier- bis sechsmal höher als die von Schwesig verwendeten Werte.
"Dadurch reduziert sich die Anzahl der Überschreitungen drastisch. Die Berechnung der Innenrevision, es habe 30 bis 40 Prozent Überschreitungen gegeben, treffen insofern nicht zu. Sondern von insgesamt 13.000 Messergebnissen sind 64 über den Zuordnungskriterien, und nach plausiblen Berechnungen des Deponiebetreibers liegen die Überschreitungen bei weniger als einem Prozent."
Selbst dafür gelte, dass nicht jede Überschreitung in einer Einzelcharge eine Gefahr für Umwelt oder Gesundheit darstelle. Entscheidend seien vielmehr die mittleren Messwerte dessen, was auf der gesamten Deponie lagere. Und die seien in Ordnung.
In drei Fällen habe es allerdings "ernsthafte Defizite im Risikomanagement" gegeben, weil die IAG wiederholte Überschreitungen von Annahmekriterien durch bestimmte Lieferanten zu lange hingenommen hatte, statt die Annahme des Mülls zu verweigern.
"Meine verehrten Damen und Herren!" übernimmt Finanzminister Mathias Brodkorb das Fazit, indem er ein Papier verteilen lässt: die "Ihlenberger Erklärung", unterschrieben von allen Beteiligten. Darunter Stefan Schwesig, der sich derzeit in Elternzeit befindet.
"Also: Es gibt erstens einen geordneten Deponiebetrieb im Grundsatz. Die Verfahren funktionieren. Es sind keine Anhaltspunkte entdeckt worden für gesundheitliche oder Umweltschäden. Insofern hoffe ich, auch im Namen des Gutachters zu sprechen, dass eine Bewertung der untersuchten Vorgänge als 'Giftmüll-Skandal' - dies ist ja hier und da geschehen - sachlich keine Grundlage hat. Ist das zutreffend?"
Schwesigs Bericht beunruhigt
Gutachter Achim Willand: "Das fände ich völlig verfehlt, das als Giftmüll-Skandal zu bezeichnen."
Ist die Luft also schon wieder raus oder herrscht noch dicke Luft über der Sondermüll-Deponie Ihlenberg?
"Tagesordnungspunkt 17: Prüfbericht zur Annahme von belasteten Abfällen zur Deponierung am Standort Ihlenberg vom 10. September 2018. Verfasser: Stefan Schwesig. Ja, dann begrüße ich die Deponieleitung."
Als Bürgermeister Kreft (SPD) dieser Tage zur Gemeindevertretersitzung lädt, mögen sich gerade einmal 20 Selmsdorfer von den beiden Geschäftsführern erklären lassen, wie die Mülldeponie funktioniert. Einer der wenigen, die Fragen stellen, ist Detlef Lüth von der Wählergemeinschaft "Bürger für Selmsdorf". Er wohnt 1,5 Kilometer Luftlinie von Norddeutschlands größter Giftmüll-Halde entfernt, kenne das externe Gutachten und lobt die Offenheit der heutigen Geschäftsleitung. Dennoch beunruhige ihn der kritische Schwesig-Prüfbericht noch immer.
"Das Vertrauen ist erst einmal sehr, sehr weit weg. Allein weil es eine landeseigene Gesellschaft ist, die durch landeseigene Institutionen überprüft wird. Das ist das große Problem, was ich als Anwohner auch habe. Das Bauchgefühl ist da immer zwiegespalten."
So stammen die jüngsten Luftmessdaten von 2016, was nichts über den extrem trockenen Sommer 2018 aussage.
Bei Ostwind kommt der Staub
"Wenn Ostwind ist und der Staub, der durch Fahrzeuge und Baumaßnahmen da oben wie auch immer in Bewegung gesetzt wird, der weht ins Land. Und wir als direkte Anwohner fragen uns natürlich, ob wir draußen in Ruhe sitzen können, ohne unsere Gesundheit zu gefährden, ob wir unser Gemüse, das wir anbauen, essen können. Denn wir sind im ländlichen Bereich; wir haben auch ein bisschen Kleintierzucht. Wir haben Bienen und sonst was alles. Kann man das ohne Gefahr verzehren?"
Im Januar wird es in Selmsdorf eine große Einwohnerversammlung geben mit allen Deponieverantwortlichen aus Unternehmen, Politik und Aufsichtsrat. Auch der Ex-Innenrevisor ist eingeladen, der sich bislang ebenso wenig öffentlich geäußert hat wie seine Frau, Ministerpräsidentin Manuela Schwesig.
Die wartet auf das Zukunftskonzept, das nun ein ehemaliger Landesrechnungshofpräsident als Sonderbeauftragter der Landesregierung bis März entwerfen soll. Es soll vor allem darum gehen, wie lange noch die landeseigene Deponie Ihlenberg welche Art von Sondermüll gegen gutes Geld einlagern will, und wann die heikle Rekultivierung der Anlage beginnen soll, die so groß ist wie 232 bundesligataugliche Fußballplätze.