Preis der Leipziger Buchmesse 2024

Die Liste der Nominierten überrascht

14:00 Minuten
Das Logo der Leipziger Buchmesse auf einer Treppe in einer Glashalle der Messe in Leipzig. Auf rotem Grund ist ein stilisierter Kopf zu sehen, der aus nur einem Auge besteht. Davor, ebenfalls in Gelb, die Umrisse eines Buches.
Vorfreude auf das Event: Über diese Treppe gehen Besuchende beim Besuch der Leipziger Buchmesse. © IMAGO / blickwinkel / IMAGO / S. Ziese
Ein Kommentar von Miriam Zeh · 16.03.2024
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Die Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse hat bekannt gegeben, welche fünf Bücher ins Rennen um die prominente Auszeichnung gehen. Ihre Auswahl ist kaum nachvollziehbar. Daran lässt sich ein Wandel im Urteilen über Literatur ablesen.
Die Shortlist für einen Literaturpreis versammelt selten die besten Bücher des Jahres. Vielleicht ist das ohnehin eine unmögliche Aufgabe. Denn einerseits steht selbst hauptberuflichen Kritikerinnen und Kritiker eine begrenzte Lebenszeit zum Lesen zur Verfügung. Andererseits basiert ein Urteil immer auch auf individuellen Lektüreerfahrungen und -prägungen. Wenn die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse nun eine erratische Auswahl an Büchern für einen der prominentesten Literaturpreise im deutschsprachigen Raum ins Rennen schickt, lässt sich daran vor allem ein Wandel beim Beurteilen von Literatur ablesen.
Die fünf Nominierten in der Kategorie Belletristik sind auf den ersten Blick kaum vergleichbar. Anke Feuchtenberger, eine der einflussreichsten Comic-Künstlerinnen Deutschlands, legt mit „Genossin Kuckuck“ eine autobiografische Graphic Novel und ihr Opus Magnum vor. In fantastisch-unheimlicher Bildsprache, die eine Comic-Generation geprägt hat, erzählt Feuchtenberger vom Aufwachsen in der DDR.
Aber was hat dieses Lebenswerk mit Inga Machels solidem, allerdings keinesfalls herausragendem Erstlingsroman „Auf den Gleisen“ gemeinsam? Ein umfangreich traumatisierter Icherzähler folgt darin einem Drogenabhängigen ins grell überzeichnete Elend. Das wirkt bereits neben dem zweiten Debütroman auf der Nominiertenliste, dem kunstvoll und mit zahlreichen religiösen Motiven gearbeiteten deutsch-jüdischen Familienroman „Gewässer im Ziplock“ von Dana Vowinckel, deplatziert.
Wo die Werbebudgets von großen und kleinen Verlagen immer weiter auseinanderklaffen, wo sich die mediale Aufmerksamkeit zunehmend auf wenige Titel der internationalen Riesenkonzerne konzentriert und eine Feuilletoneinordnung den auf Booktok mobilisierten Fangemeinden kaum etwas entgegensetzen kann, wollen Literaturjurys Entdeckungen machen. Die ohnehin meist wirkmächtig platzierten Spitzentitel der Verlage sollen nicht auch noch Nominierungen und Preise kassieren. Vielmehr wird Zuwendung auf das Kleine und Randständige gelenkt.

Es dominieren kleine, alltägliche Ästhetiken

Die Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse hat diese Strategie in den letzten Jahren auf die Spitze getrieben. Mittlerweile ist in der Kategorie Belletristik die (nach wie vor marktbeherrschende) episch angelegte Romanform ebenso verschwunden wie der (nach wie vor diskursherrschende) etablierte deutschsprachige Autor oder die etablierte deutschsprachige Autorin mittleren Alters. Stattdessen dominieren die Auswahl kleine, alltägliche Ästhetiken, die ohne großspurigen Werkgestus daherkommen.
So sammelt Barbie Marković in „Minihorror“ charmant-dichte Sentenzen über das migrantische und absurde Alltagsleben in Österreich. Wiederholte Male wird in den verspielten Geschichten das Sprachbild zur erzählten Realität, die Metapher wortwörtlich. Und Wolf Haas, für seine Sprachkunststücke und Krimis vielfach ausgezeichnet, schreibt – nebenbei und ohne viel Aufmerksamkeit für Formulierungen, wie er im Text wiederholt versichert – einen berührenden autobiografischen Essay über Herkunft, Leben und Sterben seiner Mutter.

Welche Orientierung bietet die Auswahl noch?

Manches auf dieser Nominiertenliste funkelt, anderes poliert man vergeblich. Die Jury zum Preis der Leipziger Buchmesse hat ihre Kriterien bis zur Unkenntlichkeit partikularisiert. Welche Orientierung kann so eine Auswahl noch bieten? Und welche Aufmerksamkeit sichert sie noch jenen Büchern, die am 21. März 2024 auf der Leipziger Buchmesse als Gewinnertitel in den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Übersetzung prämiert werden? Die Preisentscheidungen werden zwangsläufig genauso erratisch sein wie die Auswahl der Nominierten.

In der Kategorie Sachbuch/Essayistik sind nominiert:
Jens Beckert für „Verkaufte Zukunft. Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht“
Christina Clemm für „Gegen Frauenhass“
Tom Holert für „„ca. 1972" Gewalt – Umwelt – Identität – Methode"
Christina Morina für „Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er-Jahren“
Christiane Collorio (Hrsg.), Ines Geipel (Hrsg.), Ulrich Herbert (Hrsg.), Michael Krüger (Hrsg.) und Hans Sarkowicz (Hrsg.) für „Jahrhundertstimmen 1945-2000 – Deutsche Geschichte in über 400 Originalaufnahmen. Jahrhundertstimmen II“

In der Kategorie Übersetzung sind nominiert:
Ki-Hyang Lee für die Übersetzung aus dem Koreanischen von „Der Fluch des Hasen“ von Bora Chung
Klaus Detlef Olof für die Übersetzung aus dem Slowenischen von „18 Kilometer bis Ljubljana“ von Goran Vojnović
Lisa Palmes für die Übersetzung aus dem Polnischen von „Bitternis“ von Joanna Bator
Jennie Seitz für die Übersetzung aus dem Russischen von „Nimm meinen Schmerz. Geschichten aus dem Krieg“ von Katerina Gordeeva
Ron Winkler für die Übersetzung aus dem Englischen von „Angefangen mit San Francisco. Gedichte“ von Lawrence Ferlinghetti
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