Neue Literatur in Frankreich

Kritischer Blick auf den Zustand der Welt

Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal
Boualem Sansal ist mit seinem Text "Nach Sankt Orwell" in der Anthologie vertreten. © picture alliance / dpa / Arne Dedert
Cornelia Ruhe im Gespräch mit Frank Meyer · 28.09.2017
Narzistische Nabelschau? Fehlanzeige – die französische Gegenwartsliteratur ist ziemlich politisch. Eine neue Anthologie zeigt: Die Generation der 1963 bis 1977 geborenen Autoren setzt sich mit Gewalt, Flüchtlingen und dem Erstarken des Rechtsextremismus auseinander.
Frank Meyer: "Den gegenwärtigen Zustand der Dinge festhalten", so heißt ein neuer Band mit französischsprachiger Literatur. Die Anthologie ist jetzt bei uns erschienen, herausgegeben von der Literaturwissenschaftlerin Cornelia Ruhe und dem französischen Autor Jérôme Ferrari. Und Cornelia Ruhe ist jetzt bei uns im Studio. Seien Sie willkommen, Frau Ruhe!
Cornelia Ruhe: Guten Morgen!
Meyer: Was heißt das denn für Sie, dieser Titel der Anthologie, "Den gegenwärtigen Zustand der Dinge festhalten", wenn Sie auf Literatur schauen?
Ruhe: Das ist zunächst mal ein Zitat aus einem der Texte in dem Band, von Pierre Bergounioux, in dem geht es darum, dass in vielen französischen Texten die Gegenwart und ihre Probleme im Vordergrund stehen. Auch wenn die Texte selbst das dann manchmal in die Vergangenheit projizieren und dort sozusagen über Dinge reflektieren, die auch für die Gegenwart noch relevant sind.
Und in gewisser Weise geht es uns darum, mit diesem Zitat auch zu sagen, dass es so etwas wie eine größere Welthaltigkeit der gegenwärtigen französischen Literatur gibt, dass es einen Rückgang von autofiktionalen Texten gibt und dass viele Autoren von einer Sorge erfüllt sind um die Welt, um ihren gegenwärtigen Zustand und dass die Texte dieser Sorge Rechnung tragen.
Meyer: Es ist ja so, wenn man ans gegenwärtige Frankreich denkt aus unsere Perspektive. Man denkt natürlich auch an den Macron'schen Aufbruch, aber man denkt auch an die ganze Kette an Erschütterungen, an Attentate, an den Vormarsch des Front National, an die Auflösung des Parteiensystems. Was ja auch mit Macron verbunden ist. Diese Erschütterung ist spürbar in den Texten?

Flucht und Rassismus als Themen der Literatur

Ruhe: Die ist in den Texten insofern relativ wenig spürbar, als wir diese Texte ja eingesammelt haben von vor anderthalb Jahren bis vor einem Jahr ungefähr. Das heißt, einige der Ereignisse sind in den Texten entsprechend noch nicht reflektiert. Das hängt eben auch mit der Vorbereitungszeit solcher Bände zusammen. Was aber präsent ist in den Texten, ist zum Beispiel das Thema Flucht, das Thema Flüchtlinge. Auch Rassismus spielt eine Rolle oder die zunehmende Sorge etwa über Entwicklungen in der islamischen Welt. Das ist in dem Text von Boualem Sansal präsent.
Wir haben uns aber mit Absicht dagegen entschieden, bei dem Band von vornherein ein Thema zu setzen. Also zum Beispiel zu sagen, das soll in jedem Fall mit aktuellen Entwicklungen oder Ereignissen zusammenhängen, sondern zu gucken, was die Autoren anbieten. Und in der Tat hat es sich eben – das sieht man auch an den Blöcken, zu denen wir das zusammengestellt haben, so ergeben, dass die Texte eigentlich ganz gut zusammengepasst haben.
Meyer: Wir hatten hier vor Kurzem in der "Lesart" ein Gespräch über neue Romane aus Frankreich. Sie haben jetzt ja kürzere Texte versammelt in dieser Anthologie und in diesem Romangespräch sagte unsere Kritikerin, als sie sich umgeschaut hat in der Romanlandschaft, auch bei Sachbüchern ist ihr aufgefallen, dass ein Thema ganz oft wiederkehrt, und das ist das Thema der Gewalt in ganz unterschiedlicher Perspektive. Individuelle Gewalt einzelner Personen gegen andere, aber auch strukturelle Gewalt des Staates gegenüber ganzen Menschengruppen. Natürlich auch die Gewalt bei den Attentaten. Dieses Thema Gewalt, wie stark ist das da in den Texten, die Sie haben?

Gewalt wird in der Literatur reflektiert

Ruhe: Das spielt auch in diesen Texten eine Rolle, und zwar sowohl in Form von Gewalt gegen Individuen als auch in Form von struktureller Gewalt, wie Sie das schon erwähnt haben. Das kommt also auch in den Texten in der Anthologie zum Tragen, nicht in allen, aber doch in einigen. Und es ist ganz ohne Frage in der aktuellen Literatur ein ganz starkes Thema. Und zwar einerseits eben um Gewalt in der zeitgenössischen Gesellschaft, andererseits aber eben auch Autoren und Autorinnen, die versuchen, in der Vergangenheit nach Spuren für heutige Probleme zu suchen und durch die Analyse vergangener Ereignisse in Form literarischer Texte dann eben zu gucken, wie dort vielleicht Probleme angelegt sind, wie da die Grundlagen gelegt worden sind für Gewaltprobleme, mit denen wir bis heute kämpfen.
Meyer: Können Sie uns das noch ein bisschen genauer schildern, was für Gewaltmomente da auftauchen in den Texten?
Ruhe: Jetzt weniger in der Anthologie als allgemein in der französischen Literatur gibt es eine massive Tendenz für meine Begriffe der Reflektion über die Kriege Frankreichs der letzten ungefähr hundert Jahre, vor allem des 20., auch des 21. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg, den Zweiten Weltkrieg, die Kolonialkriege, an denen Frankreich beteiligt war, aber auch dann über die Militäreinsätze, an denen die französische Armee beteiligt war. Zum Teil spielt auch die Fremdenlegion eine Rolle. Und das sind Reflexionen, die in den Romanen zum Teil die Verbindungslinie zwischen diesen Kriegen sehen, die andererseits versuchen, die Auswirkungen, die Konsequenzen dieser Kriege und derer, die aus den Kriegen zurückgekommen sind, für die französische Gesellschaft bis heute auszuloten, das spielt eine starke Rolle.
Dann in anderen Texten, die zum Beispiel zurückgehen zu Momenten, die sie als Ursprungsmomente für bestimmte Gewaltentwicklungen sehen, wie zum Beispiel bei [unverständlich], das ist ein französisch-québequoiser Autor, also aus Kanada, der aber seinen familiären Ursprung im Libanon hat, der sich den amerikanischen Bürgerkrieg als Ausgangspunkt für alle Bürgerkriege und für alle Konflikte dieser Art anguckt. Also tatsächlich spielen eben gewaltsame Auseinandersetzungen eine große Rolle in der französischen Literatur, bis hin eben dann zu den Terroranschlägen und zum Krieg gegen den IS.

Kritische Betrachtungen der Gegenwart

Meyer: Und wenn wir mal auf die andere Seite schauen, also vielleicht auf die andere Seite: Sie schreiben in dem Vorwort zu Ihrem Buch, das Interesse der Autoren gelte der Beschreibung und Erschaffung einer gemeinsamen Welt. Erschaffung einer gemeinsamen Welt, das klingt jetzt fast nach einer positiven Utopie, die man auch findet. Tatsächlich? Können Sie uns das genauer beschreiben?
Ruhe: Ich glaube, es geht eher um eine Negativdiagnose in diesem Zusammenhang eigentlich, denn was die Autorinnen und Autoren hier machen, ist, sie beschreiben eine Welt, die sie zwar noch mit anderen teilen, die sie aber auch kritisieren und an der sie beobachten, dass sie zunehmend zerfällt. Das sieht man bei Texten von Virginie Despentes zum Beispiel, das sieht man in der Anthologie aber auch bei ganz vielen Texten, unter anderem auch bei den Texten von Lydie Salvayre, von Boualem Sansal, das sieht man auch in den Essays teilweise, die in der Anthologie enthalten sind.
Das heißt, es geht nicht nur um die Erschaffung dieser Welt, um die Auseinandersetzung mit dieser Welt, um die Problematisierung dieser Welt und um vielleicht – das wäre sozusagen die utopische Interpretation der Sache, auf der Grundlage dieser Analyse dann zu erreichen, dass wieder mehr Gemeinsamkeiten entstehen. Aber ob das dann passiert, das ist dann eher auf der Seite der Leser zu beobachten.

Erstmals ins Deutsche übersetzt

Meyer: Sie wollen mit dem Buch auch eine neue Generation von französischsprachigen Autoren vorstellen, die zwischen 1963 und 1977 geboren sind, also die ganz Jungen sind das auch nicht, aber so mittlere Generation, Autoren, die in Frankreich schon bekannt sind, bei uns deutlich weniger. Vielleicht können Sie uns mal an einem Beispiel, wenn Sie sich da bitte entscheiden, klar machen, was wir da bisher verpasst haben?
Ruhe: Ein Beispiel wäre zum Beispiel Mathieu Larnaudie. Das ist ein, wie Sie richtig sagen, relativ junger Autor, er ist geboren 1977. Er hat in Frankreich bisher fünf oder sechs Romane veröffentlicht, von denen kein einziger ins Deutsche übersetzt worden ist, obwohl sie thematisch durchaus interessant wären. Er hat also zum Beispiel einen Roman über die Finanzkrise, die verschiedenen Protagonisten der Finanzkrise, auch mit einem Porträt von Angela Merkel zum Beispiel veröffentlicht, er hat einen anderen Roman geschrieben über die politische Landschaft in Frankreich, die in diesem Fall in der Person eines Redenschreibers für einen wichtigen Politiker präsent ist – "Acharnement" heißt das.
Und der letzte Roman stellt eine historische Figur ins Zentrum, und zwar die amerikanische Schauspielerin Francis Farmer, die aufgrund ihres nonkonformistischen Verhaltens dann in die Mühlen der amerikanischen Psychiatrie geraten sind. Das sind sehr schöne Texte mit einer sehr klaren, sehr poetischen Sprache, die für meine Begriffe sowohl thematisch als auch eben von ihrer Form her in Deutschland mindestens so gut ankommen müssten wie in Frankreich, wo sie tatsächlich sehr positiv rezensiert werden. Das wäre ein Autor, von dem ich der Meinung wäre, der wäre zu entdecken.

Deutschland aus Sicht der franzöischen Autoren

Meyer: Ein Autor, der auch über Angela Merkel geschrieben hat, haben Sie gerade gesagt. Es gibt überhaupt eine ganze Reihe von Autoren in Ihrem Band, die eine enge Beziehung zu Deutschland haben, die in Deutschland gelebt haben zeitweise oder auch tatsächlich auf Dauer. Was findet man denn wieder in den Texten dieser Autoren, was für eine Art Beziehung haben die zu Deutschland?
Ruhe: Das ist ganz verschieden. Es gibt Autoren, die, wie Oliver Rohe, ein Autor, dessen Name sehr Deutsch klingt, der aber tatsächlich auf Französisch schreibt. Der hat einen Roman geschrieben, dessen einer Erzählstrang spielt in Bochum am Schauspielhaus ganz maßgeblich. Das ist auch ein sehr spannender Text, der leider nicht übersetzt ist bisher.
Ein anderer Autor, der hier in Berlin lebt seit mehreren Jahren, ist Camille de Toledo, der sich auch in seinen Essays der deutschen Vergangenheitsbewältigung auseinandersetzt, mit eben dem Zusammenspiel von Vergessen und Erinnern, und sehr spannende Reflexionen über den Umgang der deutschen mit ihrer Vergangenheit anstellt. Auch der ist nicht übersetzt, obwohl gerade diese Essays für meine Begriffe ausgesprochen interessant wären auch für die innerdeutsche Diskussion dieses ja in Deutschland sehr präsenten Themas.
Meyer: Also da könnten wir mit diesen französischen Autoren auch einen Blick auf uns selbst kennenlernen. "Den gegenwärtigen Zustand der Dinge festhalten", die Anthologie mit neuer französischsprachiger Literatur, herausgegeben von Cornelia Ruhe und Jérôme Ferrari, ist als Band der Zeitschrift "Die Horen" erschienen. 280 Seiten, der Preis 16,50 Euro. Frau Ruhe, vielen Dank für den Besuch bei uns.
Ruhe: Ich danke Ihnen!
(mw / leicht gekürzte Online-Fassung)

Jérôme Ferrari und Cornelia Ruhe (Hrsg.):
Den gegenwärtigen Zustand der Dinge festhalten.
Zeitgenössische Literatur aus Frankreich
Wallstein-Verlag, 280 Seiten, 16,50 Euro

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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