Neue Dystopien

Auf der Suche nach dem Aldous Huxley von heute

09:03 Minuten
Aldous Huxley in Rom, 1963
Zuflucht in Rom: Wegen seiner Sehbehinderung zog es Aldous Huxley an lichtdurchflutete Orte © picture-alliance / MP / Leemage
Marten Hahn im Gespräch mit Joachim Scholl · 26.07.2019
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"Brave New World" von Aldous Huxley hat sich als prophetisch erwiesen. Doch der Roman hat auch Schule gemacht: Literarische Nachfolger haben düstere Zukunftsszenarien entworfen. Wie sehen die Dystopien von heute aus?
Joachim Scholl: Vor 125 Jahren wurde der Schriftsteller Aldous Huxley geboren. Mehr als 50 Bücher hat der Brite verfasst, eines davon ist ins kollektive Gedächtnis der Welt eingezogen: "Brave New World", "Schöne neue Welt". 1932 erschienen, und neben George Orwells "1984" wohl der bekannteste tiefschwarze Zukunftsroman.
Solcher Art negativer Utopien haben ja ein eigenes Genre von sogenannten Dystopien herausgebildet, und wir wollen zu Ehren von Aldous Huxley diese seine Nachfolger und Nachfolgerinnen in den Blick nehmen. Das tun wir mit dem Kritiker und unserem Autor Marten Hahn. Herr Hahn, gibt es ihn, den Huxley des 21. Jahrhunderts?
Marten Hahn: Ich würde sagen, Huxley ist der neue Huxley. Wenn man sich anguckt, anschaut, was mit "Brave New World" passiert ist nach der Wahl Donald Trumps, da ist das Buch in die Top Ten der Amazon-Verkaufscharts geschossen, aber auch zusammen mit anderen, älteren dystopischen Romanen.
Da war auch "1984" von George Orwell dabei oder "It Can't Happen Here" von Sinclair Lewis, da geht es um einen Demagogen, der US-Präsident wird und ein faschistisches Regime errichtet. Oder "Fahrenheit 451" von Ray Bradbury, da geht es um Bücherverbrennungen und Bildschirme, die das geschriebene Wort ersetzen.
Aber vor allem "1984" und "Brave New World", die werden immer wieder herangezogen, wenn es zum Beispiel darum geht, zu erklären, wohin denn die Trump-Regierung führen könnte.

Huxley hat die Gegenwart am besten vorhergesehen

Scholl: Als ich "Brave New World", "Schöne neue Welt", das erste Mal las – vor gut 40 Jahren muss das gewesen sein –, da fror es mich schon mächtig. Wie ist das, wenn man den Roman heute in die Hand nimmt? Ist die "Schöne neue Welt" heute noch relevant?
Hahn: Sie ist immer noch relevant und wahrscheinlich relevanter denn je. Das sieht man auch, wenn man sich anguckt, wie oft er noch als Referenzpunkt herangezogen wird.
Bei uns in Großbritannien hier, da gibt es immer häufiger die Debatte: Wer hatte denn nun recht, Huxley oder Orwell, "Brave New World" oder "1984"? Das heißt, in welcher Welt leben wir heute – in einer der emotionalen Leere, der betäubenden Konsumkultur oder gibt es einen allmächtigen Überwachungsstaat und Fake News?
Ich erinnere mich, vor einem Jahr war ich bei einer Veranstaltung hier, da hatte man zwei prominente Autoren auf die Bühne gebracht, und die haben die Arena betreten und versucht, das Publikum entweder für "Brave New World" oder "1984" zu gewinnen. Und das Ergebnis war, dass zwei Drittel dachten, "Brave New World" hat unsere Gegenwart am besten vorhergesehen, denn Huxley hat damals eben existierende Trends in Wissenschaft und Technologie weitergedacht.
Er sah da die sexuelle Freizügigkeit und vielleicht Beziehungsunfähigkeit von uns kommen, eine verdummende Unterhaltungsindustrie und ständige Stimulanz und auch den Einsatz von Antidepressiva und Drogenkonsum, aber auch den Verlust von Privatsphäre und das Sammeln von Daten. Er wollte sein Buch aber gar nicht prophetisch verstanden wissen, sondern er hat mal gesagt, es geht eher darum zu warnen. Er sagte da: "This is possible: For heaven’s sake be careful about it." Also: Das ist alles möglich, um Himmels Willen, lasst uns vorsichtig sein.
Scholl: Der Verlust von Privatsphäre oder das obsessive Sammeln von Daten, das verbinden wir heute natürlich vor allem mit Konzernen wie Google und Facebook und Social Media. Sind das die Themen, mit denen sich die Dystopien unserer Gegenwart beschäftigen?
Hahn: Wenn wir noch mal kurz ein Stück zurückgehen und auf die 70er schauen, damals schrieb Ursula K. Le Guin, die verstorbene Grande Dame der Science-Fiction, "The Dispossessed", was bei uns zuletzt als "Freie Geister" erschien. Darin ging es noch um politische Gesellschaftsentwürfe, also staatliche Strukturen, Kapitalismus, was ist Anarchismus. Und dieser Fokus hat sich schon verschoben, weg von Big-Brother-Staaten hin zu Big-Brother-Konzernen. Da gab es zum Beispiel 2013 "The Circle" von Dave Eggers – darin regiert ein Technikkonzern, das ist eine Mischung aus Apple und Facebook, und da geht es um den Alptraum totaler Transparenz, alles Private ist Diebstahl, heißt es da unter anderem. Und von Margaret Atwood gab es 2003 auch schon "Oryx and Crake", auch darin ist die Politik nahezu machtlos und globale Konzerne regieren die Welt nahezu unreguliert mit sehr fatalen Konsequenzen für Mensch und Umwelt.

Neues Genre: Near Future

Scholl: Jetzt haben Sie schon die ersten weiblichen "Dystoperinnen", wenn man so sagen kann, genannt, Stichwort Margaret Atwood. Wie steht es denn eigentlich auch um die Genderfrage, also Emanzipation, weibliche Macht, Matriarchat versus Patriarchat, Unterdrückung von Frauen – ist doch eigentlich ein gutes dystopisches Thema, oder?
Hahn: Ein hervorragendes dystopisches Thema, was Margaret Atwood ja in den 80ern schon wusste. Damals hat sie "Der Report der Magd" veröffentlicht: In einer nuklearen Katastrophe sind viele Menschen unfruchtbar geworden, und christliche Fundamentalisten haben da eine Diktatur errichtet, die Frauen brutal unterdrückt und zu Gebärmaschinen degradiert. Viele dürften das heute als TV-Serie kennen, die ist ein Jahr nach der Wahl Trumps veröffentlicht worden und fiel da in dem politischen Klima auf sehr fruchtbaren Boden.
Literarisch ist da wohl demnächst eine Fortsetzung geplant, "The Testaments" heißt das neue Buch von Margaret Atwood – das kennen wir noch nicht, außer die Richter des Booker Prize, die haben sie schon nominiert dafür.
Aber etwas näher an unserer Zeit ist dann da "Die Gabe" von Naomi Alderman – Atwood ist eine Mentorin für die Autorin. "Die Gabe" handelt von Frauen, die Superkräfte bekommen haben durch ein neues Organ und Stromschläge verteilen können und dadurch weltweit die Hierarchie der Geschlechter auf den Kopf stellen: Frauen an die Macht. Aber weil Macht korrumpiert, wird eben auch das zu einer Dystopie am Ende.
Scholl: Und dann liest man ja doch immer wieder gern düstere Romane aus der Welt von übermorgen, und da haben Sie, Marten Hahn, auch einiges Drastisches gefunden, nicht wahr?
Hahn: Ja, im Genre spricht man da gern von Near Future, naher Zukunft, und da fallen zum einen bei uns in Deutschland auch "Corpus Delicti" und "Leere Herzen" von Juli Zeh mit rein, aber vor allem beschäftigen sich Autoren in letzter Zeit mit Post-Brexit-Szenarien.
Da gibt es zum Beispiel von John Lanchester "The Wall", "Die Mauer" – darin wurde ein Schutzwall um Großbritannien gezogen, zum einen gegen das ansteigende Meer, aber auch gegen die Flüchtlinge. Dann gibt es "Die Lieferantin" von Zoë Beck, das spielt in einem düsteren Post-Brexit-London, da beliefert eine Drogenhändlerin ihre Kunden per Drohne.
Und zuletzt "Brainfuck" von Sibylle Berg, da hat eine rechtspopulistische Regierung das Grundeinkommen eingeführt, aber was nach Sozialstaat klingt, wird auch da zum Überwachungsstaat. Und dann gibt es auch ein Genre, was ein eigenes Kürzel bekommen hat mittlerweile – CliFi, Climate Fiction. Da gibt es eine Naturwissenschaftlerin, Amy Brady, die hat dem Genre sogar eine eigene Kolumne gewidmet, mittlerweile im Chicago Review of Books, die heißt "Burning Worlds", "Brennende Welten".

"Dystopien sind nicht nützlich"

Scholl: Wenn also Autoren doch dieses Genre durchaus gern bedienen und es auch viele Leser dafür gibt, gleichzeitig könnte man sagen, Dystopien sind ja auf Dauer irgendwie auch schrecklich deprimierend. Merkwürdiger Zusammenhang, oder? Düstere Literatur kommt an.
Hahn: Kommt an – ich erinnere mich da aber an den US-Autor Kim Stanley Robinson, der mal gesagt hat, Dystopien sind vielleicht einfacher zu schreiben, aber sie sind nicht nützlich. Also schreibt er lieber ideologisch aufgeladene Utopien, weil er glaubt, damit könnte man Lesern besser eine neue Art des Denkens beibringen.
Das stimmt so aber, glaube ich, nicht. Es gibt einige Medienwissenschaftler, die denken, literarische Warnungen, diese Dystopien, die mobilisieren auch zum Protest, vor allem im Bereich Umweltschutz. Da gibt es zum Beispiel den Medienwissenschaftler Lars Schmeink, und der glaubt, dass Weltuntergänge, also diese extremen Positionen, vor Dingen warnen, die vielleicht noch gar nicht so sichtbar sind und die wir sonst einfach unter den Teppich kehren würden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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