Hitparade der Angst, kaum neue Erkenntnisse
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"The Social Dilemma" trendet in den Streaming-Charts. Kritik an den Folgen sozialer Medien für die Gesellschaft ist Thema der Netflix-Doku, viele Insider der Tech-Branche kommen zu Wort. Aber unsere Kritikerin ist nach dem Gucken nicht schlauer.
Die Dokumentation "The Social Dilemma" beginnt mit einer fast schon überwältigenden Anzahl an Menschen. Sie sitzen jeweils alleine vor der Kamera, einige lächeln, andere gucken verunsichert. Alle stellen sich vor - aber nicht mit ihrem Namen. Wichtiger sind hier ihre früheren Arbeitgeber.
Ex-Angestellte der Tech-Branche kommen zu Wort
Mich beeindruckt, wie viele ehemalige Angestellte von Google, Instagram, YouTube, Apple, Twitter, Facebook und so weiter der Macher Jeff Orlowski zusammengetrommelt hat. Insgesamt kommen 21 Menschen zu Wort, die meisten sind Männer - ein Abbild der Tech-Branche. Hauptprotagonist ist Tristan Harris.
Tristan Harris möchte, dass jeder die Mechanismen versteht, die Tech-Unternehmen meist nutzen. Er erklärt, wie Tech-Unternehmen versuchen ihre Nutzer manipulieren, wie Like-Buttons, automatische Videoweiterleitung, jeder angezeigte Inhalt uns unbewusst süchtig nach mehr machen soll. Nichts Neues, trotzdem entwickelt die Dokumentation ironischerweise einen gewissen Sog, unter anderem durch die raffiniert eingebauten Collagen aus Medienberichten.
Und eben auch durch Leute wie Jeff Seibert, ehemaliger Twitter-Mitarbeiter. Er beschreibt, wie unsere Schritte im Netz, jeder einzelne Blick beobachtet und aufgezeichnet wird.
Bedrohliche Musik wie im Thriller
Doch dann ist da eben auch diese übertriebene, bedrohliche Musik. Hier zwar nur leise, das sieht an vielen Stellen aber anders aus. Kaum dürfen die hochwertig gedrehten Szenen mal einfach nur still wirken, statt dessen geschmacklose, dröhnende Bässe, die Unbehagen und Angst ausdrücken sollen. Fast wie im Triller.
Noch eines der kleineren Probleme von "The Social Dilemma". Denn es gibt eben nicht nur Interviews mit Experten und Insidern, sondern auch Fremdmaterial von öffentlichen Interviews wird genutzt - ohne dies ordentlich zu kennzeichnen. Als Journalistin werde ich da misstrauisch.
Karikaturenhafte fiktionale Ebene
Noch viel schlimmer sind aber die fiktiven Szenen mit einer fiktiven Familie. Deren Mitglieder sind karikaturenhafte Abbilder der verschiedenen Nutzungstypen von sozialen Netzwerken. Wie die überbesorgte Mutter, die Handys beim Abendbrot verbietet. Die Tochter, die durch die Technologie Körperwahrnehmungsstörungen kriegt.
Ein an sich wichtiges Thema, das hier völlig überspitzt wird. Dazu gibt es übrigens noch eine Einordnung von Jonathan Haidt, Sozialpsychologe von der NYU Stern School of Business. Die hat mich am meisten schockiert, weil Haidt an dieser Stelle den Anstieg von Selbstverletzung, Depressionen, Suizid von Jugendlichen in den USA 2009 mit dem Beginn von sozialen Netzwerken vergleicht und einfach behauptet, dass beides zusammenhängt – gefährliche Behauptung, ohne wissenschaftlichen Beleg. Immerhin gab es zu dieser Zeit auch eine Weltwirtschaftskrise.
Großes Netflix-Kino?
Aber zurück zur fiktiven Erzählung. Es gibt noch die älteste Tochter, die absolut gegen jedes Netzwerk ist. Und den Teenager, der im Begriff ist sich durch die sozialen Netzwerke zu radikalisieren. Das Handeln der sozialen Netzwerke wird durch den Schauspieler Vincent Kartheiser dargestellt, der quasi in einer Art Schaltzentrale waltet.
Hier wird großes Netflix-Kino versucht, das aber nur an eine schlechte Kopie von "Black Mirror" erinnert. Damit ist der Film eigentlich keine Dokumentation mehr, sondern eher ein visuelles Spektakel, das uns alle zu Opfern macht. Wie der frühere Angestellte von Facebook und Uber, Sandy Parakilas, sagt: Wir sind alle Laborratten.
Es erhebt die sozialen Netzwerke beziehungsweise Tech-Firmen zu den allmächtigen Bösen. Ich bin die Letzte, die diese Unternehmen verteidigen will, aber so schwarz-weiß ist das Leben nicht. Zum Beispiel können soziale Netzwerke dabei helfen sich zu radikalisieren, sie müssen es aber nicht.
Und die Lösung für unser Problem ist nicht, einfach nur die Push-Meldungen auszustellen oder die Apps ganz zu löschen, wie es im Abspann der Dokumentation so flapsig noch von den Interviewten gesagt wird.
Kaum Konkretes, trotz geballter Expertise
Viel zu oft wird das Wort Regulierung in Bezug auf die Tech-Unternehmen in den Mund genommen, aber nicht gesagt, wie das geschehen soll. Bei so viel geballter Expertise in Form der Interviews hätte ich einfach mehr erwartet, als nur eine Hitparade der Angst - ohne neue Erkenntnisse für Menschen, die sowieso schon affin für das Thema sind.
Ich glaube auch, dass Menschen ohne ein Bewusstsein für die Gefahren nach dem Gucken nicht schlauer sind. Denn die Dokumentation bietet keinen echten Ausweg aus dem "Social Dilemma". Ich werde mein Verhalten nach der Dokumentation jedenfalls nicht ändern.