Facebook, Twitter und Co.

Social Media – Fluch und Segen zugleich

11:17 Minuten
Nikita Dhawan vor ihrer Festivalrede zum Auftakt der Ruhrtriennale 2018.
Unser Gesprächsgast: die Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan von der Universität Gießen. © imago images / Michael Kneffel
Nikita Dhawan im Gespräch mit Katja Bigalke und Martin Böttcher · 06.06.2020
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Ohne soziale Medien wäre der Tod von George Floyd vermutlich niemals einer weltweiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Doch vertiefte Debatten sind in sozialen Netzen fast unmöglich. Eine Einordnung des digitalen öffentlichen Raumes mit der Politologin Nikita Dhawan.
Es war ein Video, das um die Welt ging. Fast neun Minuten lang kniete ein Polizeibeamter auf dem Nacken des schwarzen Amerikaners George Floyd, bis dieser starb. Die Reaktionen darauf führten zu Protesten und das harte Durchgreifen der Polizei zu Unruhen in den USA.
Durch die Verbreitung von Smartphones und Social Media gelangten in den vergangen Jahren immer öfter Dokumentationen rassistischer Polizeigewalt in die öffentliche Debatte. Die Zugangshürden zum öffentlichen Raum sind sehr viel niedriger geworden.
Nikita Dhawan, Professorin für Politikwissenschaft, ordnet im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur die Entwicklung ein.

Von Männer in Kaffeehäusern zu Social Media

Es sei wichtig, die Geschichte des öffentlichen Raumes zu kennen, um den Kontext zu verstehen, sagt Dhawan. Die sozialen Medien seien ein virtueller öffentlicher Raum. Der Aufstieg des öffentlichen Raumes in Europa sei grundsätzlich eng mit dem Aufstieg der europäischen Aufklärung verbunden.
Ein Beispiel seien die Kaffeehäuser, in denen sich die Männer des Bürgertums trafen, um über wichtige Themen zu diskutieren, was einen großen Einfluss für die Entstehung der Demokratie in Europa gehabt habe.
Aus Sicht des Philosophen Jürgen Habermas sei der öffentliche Raum dadurch zu einer wichtigen Infrastruktur für die Aufklärung geworden. Habermas habe diesen öffentlichen Raum allerdings nicht mit der europäischen Geschichte der Kolonialisierung verbunden.

"Europa ist buchstäblich eine Kreation seiner Kolonien"

"Aber wenn sich die Männer des Bürgertums in den Kaffeehäusern getroffen haben, frage ich: Wo kam denn der Kaffee her? Oder der Zucker? Oder der Tabak, den sie dort geraucht haben? Wer hat die Aufklärung finanziert? Europa ist buchstäblich eine Kreation seiner Kolonien", erklärt Dhawan.
Der heutige virtuelle und digitale öffentliche Raum sei sehr viel demokratischer als seine Vorläufer. Doch obwohl er zugänglicher sei, seien immer noch ausschließende Mechanismen vorhanden.
Einerseits würde dieser neue öffentliche Raum Möglichkeiten des Austausches schaffen, auf der anderen Seite aber auch die Reproduktion von Hate Speech, Antisemitismus, Rassismus und Sexismus ermöglichen. .
Dies mache Social-Media-Plattformen zu einer Art "Pharmakon", das gleichzeitig Gift, Gegengift und auch Medizin sein könne.

"Es gibt eine Klassenverzerrung beim traditionellen Medienpublikum"

Dhawan beschreibt das so: "Ich denke, einer der Vorteile von Plattformen wie Twitter, Instagram und Facebook ist, dass sich dort sehr viele Menschen schnell mobilisieren lassen. Traditionelle Formen der Berichterstattung können zwar auch eine breitere Öffentlichkeit erreichen, aber nur mit Einschränkungen.
Nehmen wir das Beispiel Zeitungen: Das Publikum muss sich Zeitungen leisten können, es müssen lesen können und es muss die Zeit haben, die Zeitung zu lesen. Wenn man 16 Stunden am Tag arbeitet, kann man nicht mit einer Tasse Tee und einer Zeitung starten. Es gibt also eine gewisse Klassenverzerrung beim traditionellen Medienpublikum.
Deshalb sagen viele Experten, dass die sozialen Plattformen schnell ein großes Publikum erreichen. Es wird aber auch darüber diskutiert, ob diese Form der Berichterstattung nicht auch zu oberflächlich ist."

Weltweite Solidarität

Darum fordert Dhawan, dass es Möglichkeiten geben sollte, diese schnelle Mobilisierung und den Ideenaustausch in sozialen Netzen mit detaillierterer und nuancierterer Berichterstattung zu unterfüttern.
Ein ermutigendes Ereignis, das Dhawan momentan in den sozialen Medien beobachtet, seien die Solidaritätsbekundungen nach dem Tod George Floyds. Diese zeigten, dass die Welt dem Schmerz und dem Leid anderer nicht gleichgültig gegenübersteht.
Wir hätten eine globale Öffentlichkeit, die die Idee lebt, dass wir alle im selben Boot sitzen und Gewalt gegen eine Person nicht toleriert wird, meint die Politologin.

Oft wird vergessen, vor der eigenen Tür zu kehren

Andererseits hat Dhawan auch eine Debatte gefunden, die derzeit in Indien geführt wird. Dort haben sich viele Bollywoodstars für eine Unterstützung von Black Lives Matter ausgesprochen.
Kritisiert werde von anderen Stars daran, dass in Indien nur Gewalt zum Thema werde, wenn sie im Ausland stattfindet.
Gewalt in Indien, wo in der Vergangenheit Muslime, Christen und Dalits – die sogenannten Unantastbaren – gelyncht wurden, - aufgrund des Verdachts, dass sie Rindfleisch besitzen -, da habe es in Indien keine Solidarität gegeben.
Dhawan ist allerdings weniger optimistisch, dass die aktuellen Proteste in den USA schnell zu Änderungen im System führten könnten:

"Ich glaube, dass alle, die gerade die Ereignisse verfolgen oder sich daran beteiligen, hoffen, dass diese eine Reform des Systems, wenn nicht gar eine Revolution auslösen werden. Aber wir wissen auch wie schwer es ist, Strukturen wirklich zu verändern.
Die Geschichte lehrt uns, dass wir das Schlimmste erwarten sollten, selbst wenn wir das Beste hoffen. Eine grundlegende Reform und Transformation, ganz egal, ob es um das Rechtssystem oder um soziale Beziehungen geht, ist ein schmerzhaft langsamer Prozess.
Ich glaube, das ist der Grund, weshalb schwarze Anführer und Aktivisten sagen, dass wir einerseits Protestpolitik betreiben müssen, aber im November trotzdem an die Wahlurne gehen sollten. Wir müssen am demokratischen System partizipieren, ganz egal wie problematisch es ist, um grundlegende Veränderungen anzustoßen."
(hte)
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