Mythos Naturnähe

Die "Walden"-Illusion

04:46 Minuten
Schwarz-Weiß-Abbildung des Waldensees in Massachusetts
Der Waldensee in Massachusetts: Hier lebte der amerikanische Dichter Henry David Thoreau ein Jahr lang in einer Hütte am Nordufer, um die Natur zu studieren. © picture-alliance / Mary Evans Picture Library
Ein Einwurf von Alexander Kissler · 19.01.2023
Audio herunterladen
Die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit steht hoch im Kurs. Als ein Vorbild gilt "Walden"-Autor Thoreau. Doch die reine Natur sei der falsche Lehrmeister, meint Journalist Alexander Kissler. Ein gutes Leben umfasse mehr als das unmittelbar Notwendige.
Der Spruch hat Patina angesetzt, doch er benennt ein bleibendes Dilemma: „Alle wollen zurück zur Natur, aber keiner zu Fuß.“ So klang das in den Achtzigerjahren, als die Klima- noch eine Umweltschutzbewegung war und die gesamte Natur im Zentrum der Sehnsucht nach einem besseren Leben stand. Um diesen Satz aussprechen zu können, muss der Mensch bereits aus der Natur herausgefallen sein, ihr gegenüberstehen, entfremdet und entfernt von den ursprünglichen Kräften seines Daseins. 
Und damit nicht genug: Die Natur wurde schon damals oft als Landschaft verstanden, als vom Menschen gestaltete Natur, als Wald mit Pfad und Hütte, am besten mit Anschluss ans Straßennetz. Die ungestaltete, die wirklich wilde Natur überfordert das Kulturwesen Mensch.

Sehnsucht nach dem Ursprünglichen

Nichtsdestotrotz steht die Sehnsucht nach einem ursprünglichen und darum naturnahen, auf seine basalen Ansprüche reduzierten Leben nach wie vor hoch im Kurs. So wurden der Philosoph Rousseau oder der Schriftsteller Thoreau zu Helden der Gegenwart, gerade in Deutschland. Vielleicht, weil hier, im Ursprungsland der politischen Romantik, Appelle auf besonders fruchtbaren Boden fallen, die mehr Handwerk und weniger Industrie fordern, mehr Askese und weniger Luxus.
Jean-Jacques Rousseau brachte im 18. Jahrhundert seine Vorstellungen vom „Glück des Naturmenschen“ zu Papier; dieses Glück sei "ebenso einfach wie sein Leben; es besteht aus Gesundheit, Freiheit, Besitz des Notwendigen“. Außerdem, so Rousseau, sei der natürliche Mensch „ein Ganzes für sich“, der „bürgerliche Mensch“ hingegen eine „gebrochene Einheit“. „O Mensch“, rief Rousseau, „halte an dem Platz aus, den dir die Natur in der Kette anweist, dann wird nichts dich aus demselben zu entfernen vermögen.“ Persönlich schien der Philosoph die Probe aufs Exempel machen zu wollen, als er für anderthalb Jahre in eine Einsiedelei bei Paris zog.

Kein Totalverzicht bei Rousseau und Thoreau

Kaum anders tat es, knapp hundert Jahre später, der amerikanische Dichter Henry David Thoreau. Er lebte ein Jahr lang in einer Hütte am Nordufer des Waldensees in Massachusetts. Er wollte, wie er selbst formulierte, „dem eigentlichen, wirklichen Leben näher treten“. In seinem Buch „Walden“ pries er die Einfachheit, die Naturnähe, den Abstand zu Staat und Zivilisation. Heute berufen sich die endzeitlich geprägten Aktivisten von „Extinction Rebellion“ auf Thoreau.
Sie aber und alle, die heute „Zurück zur Natur“ predigen und mit Deindustrialisierung und Degrowth liebäugeln, verkennen: Rousseau und Thoreau legten Versuchsanordnungen vor, keine Gebrauchsanweisungen.

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Beide hielten nur eine relative Distanz zu den Annehmlichkeiten der Moderne. Rousseaus Einsiedelei lag im Schlosspark seiner Mäzenatin, Thoreaus Hütte war nur einen Fußmarsch von seinem Elternhaus entfernt. Mehrmals pro Woche soll er dorthin gegangen sein, genauso wie umgekehrt seine Mutter ihm regelmäßig Essen brachte und seine Wäsche wusch.
Beide Schriftsteller wussten, dass Unabhängigkeit dem Menschen guttut und Bescheidenheit ihn adelt. Ganz Abschied nehmen von der Gegenwart und ihrem Komfort wollten sie dann aber doch nicht.

Moderne lässt sich nicht zurückdrehen

Die Moderne lässt sich nicht zurückdrehen. Sie schafft Freiräume für Sonderlinge und zwingt hoffentlich niemanden zu einem fremdbestimmten Leben. Die reine Natur ist jedoch der falsche Lehrmeister für uns Menschen des 21. Jahrhunderts. Menschlich handelt der Mensch, wenn er seine besten, seine aktuellsten Kenntnisse vernünftig einsetzt, nicht mutwillig zum Nachteil des Nächsten oder zum Schaden der Natur.
Fortschritt aber ist keine Schande, und ein gutes Leben umfasst mehr als nur das unmittelbar Notwendige. Wir nennen es Kultur.

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der „Neuen Zürcher Zeitung“ und Sachbuchautor. Von ihm erschien 2020 „Die infantile Gesellschaft. Wege aus der selbst verschuldeten Unreife“.

Porträt von Alexander Kissler
© Antje Berghaeuser
Mehr zum Thema