Posthumanismus und Ökologie

Politik für alle Lebewesen

30:18 Minuten
Leander Scholz steht in einem Birkenwäldchen.
Politik ist keine rein menschliche Angelegenheit mehr, sagt der Philosoph und Schriftsteller Leander Scholz: Wir müssen die Bedürfnisse anderer Lebewesen mit berücksichtigen, um selbst zu überleben. © Götz Schleser
Leander Scholz im Gespräch mit Simone Miller · 15.01.2023
Audio herunterladen
Unsere Sorge um die Natur prägt heute die politische Agenda. Damit tritt Politik in eine "posthumane" Ära ein, meint der Philosoph Leander Scholz: Über den Menschen hinaus übernimmt sie Verantwortung für viele weitere Lebewesen.
Klimakrise und Artensterben fordern die Politik enorm heraus. Aber auch jenseits dieser ökologischen Krisen hat der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen inzwischen einen so hohen Stellenwert erreicht, dass er den Bereich des Politischen auf die Natur ausdehnt, beobachtet der Philosoph und Schriftsteller Leander Scholz.

Ein Gesellschaftsvertrag mit der Natur

"Wir sind nicht einsam im Weltall", sagt Scholz. "Es gibt zahllose andere Lebewesen auf diesem Planeten, und mit denen müssen wir irgendeine Art von Zusammenleben finden, das ihren Eigenwert berücksichtigt." In seinem Buch "Die Regierung der Natur" stellt Scholz die These auf, dass sich die Ökologie als neues Paradigma der Politik ab Mitte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hat. Politik lernt dabei von unserem Wissen über die Natur und übernimmt ökologische Prinzipien in ihr eigenes Handeln.
Analog zu regulierenden Mechanismen, die in einem Ökosystem wirksam sind, setze Politik heute in vielen Bereichen auf indirekte Maßnahmen, so Scholz: Statt Vorschriften und Verbote auszusprechen, schaffe eine solche ökologisch informierte "Biopolitik" Milieus, die erwünschte Entwicklungen ermöglichen und begünstigen.

Die Regierung der Natur ist keine autokratische Regierung, sondern das Modell ist eher wie ein Gärtner, der lenkt, vielleicht auch etwas zurückschneidet, etwas beschränkt - aber der eher die schon bestehenden Bewegungen verstärkt oder abbremst.

Leander Scholz, Philosoph

Historisch betrachtet stand Politik immer schon unter dem Einfluss des jeweils vorherrschenden Verständnisses von Natur, erklärt Scholz. In der Antike ging dieses Verständnis allerdings noch davon aus, dass die Natur von unwandelbaren Prinzipien bestimmt sei, die auch für das Zusammenleben der Menschen einen gültigen Rahmen vorgaben.

Ein neues menschliches Selbstverständnis

Der Humanismus der Frühen Neuzeit setzte dagegen den Anspruch, dass der Mensch die Grenzen seiner Natur überwinden und sich nach eigenen Vorstellungen selbst entwerfen konnte. Ein weiterer Umbruch für unser Natur- und Selbstverständnis kam dann im 19. Jahrhundert mit der Evolutionstheorie: Plötzlich erschien das gesamte Naturgeschehen in ständigem Wandel begriffen - und der Mensch als ein zufällig entstandenes Lebewesen unter vielen anderen.
Diese Erschütterung des menschlichen Selbstverständnisses traf auf eine Natur, die durch die frühe Industrialisierung zum ersten Mal als schutzbedürftige Ressource ins Bewusstsein trat. Damit waren die Voraussetzungen einer neuen Disziplin geschaffen: Die Ökologie entstand. Und inspirierte schnell Denkerinnen und Denker verschiedener weltanschaulicher Couleur. Was das für den Raum des Politischen bedeutete, auch darauf geht Leander Scholz im Gespräch näher ein.

Literatur von Leander Scholz

"Die Regierung der Natur. Ökologie und politische Ordnung"

August Verlag, Berlin 2022
159 Seiten, 12 Euro

"Die Menge der Menschen. Eine Figur der politischen Ökologie"
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2019
137 Seiten, 19,90 Euro

"Zusammenleben. Über Kinder und Politik"
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2018
160 Seiten, 19 Euro

Mehr zum Thema