Nationale Bildungsstandards

"Kompetenzen sind nicht wissensfrei"

Schülerin im Unterricht
Abiturprüfungen sind in den vergangenen Jahren leichter geworden © picture-alliance/ dpa / Franziska Kraufmann
Moderation: Jürgen König · 12.08.2014
In der Schule werde nach dem PISA-Schock zu viel auf Kompetenzen und zu wenig auf Fachwissen gesetzt, kritisiert Hans-Peter Klein. Die Politik mache Druck, entgegnet Olaf Köller: Sie wolle immer mehr Abiturienten vorweisen.
Jürgen König: Soll man den Schülern vor allem Wissen vermitteln oder Kompetenzen? Über diese Fragen wird in der deutschen Bildungspolitik heftig gestritten, seit vor zehn Jahren die nationalen Bildungsstandards eingeführt wurden. Das war nach dem PISA-Schock eine Maßnahme zur Qualitätssicherung an Schulen und wurde damit eine der wirklich wichtigen Reformen der deutschen Bildungspolitik, denn sie bedeutete eine grundsätzlich Wende. Eher weg von der Wissensvermittlung und hin zur Kompetenzvermittlung. Die sogenannte Kompetenzorientierung in Schulen und Hochschulen, so nennen das die Bildungspolitiker und -forscher. Darüber streiten wollen wir jetzt auch.
Ich begrüße zwei Gäste im Studio, Professor Olaf Köller und Professor Hans-Peter Klein. Mein Herren, seien Sie willkommen! Herr Köller, Sie leiten heute das Leibniz-Institut für die Pädagogik der Mathematik und der Naturwissenschaften an der Christian-Albrecht-Universität in Kiel. Sie haben damals mit dem Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen genau jene messbaren fachlichen Kernkompetenzen definiert, die Schüler für einen Abschluss erwerben sollen, und die heute Grundlage von Vergleichsstudien sind. Sie sind also ursächlich an dem beteiligt, worüber sich all die Apologeten der reinen Inhaltslehre heute noch ärgerlich abarbeiten. Erklären Sie uns bitte, warum ist es besser, sich auf Fach-, Sozial-, Selbstkompetenzen zu konzentrieren, die Schüler, Studenten am Ende einer Ausbildung zu beherrschen haben, als darauf, welche Inhalte sie lernen müssen?
Olaf Köller: Ja, also ich möchte mich bei meiner Antwort auf Fachkompetenzen oder Sachkompetenzen beschränken. Im Grunde genommen, Kompetenzen beispielsweise in der Mathematik, das mathematische Problemlösen oder auch in der Fremdsprache das Hörverstehen. Die Idee, als wir damals angefangen haben 2004, war, wir wollen Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzen, dass sie ihr Wissen anwenden können. Also es ist nicht so, dass Kompetenzen wissensfrei sind, sondern beispielsweise, wenn Sie einen Text verstehen wollen, den Sie hören, dann brauchen Sie natürlich Vorwissen. Und was wir wollten, war, und das haben wir auch, glaube ich, heute erreicht, dass wir die Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzen, dass sie ihr Wissen klug anwenden in Kontexten. Dass sie eben, wenn sie ein alltägliches mathematisches Problem sehen und bearbeiten sollen, ihr Wissen anwenden können. Denn wir hatten das Problem, dass bis 2004 die Schülerinnen und Schüler über viel Wissen verfügt haben, aber nicht in der Lage waren, das anzuwenden. Also, um es zusammenzufassen: Kompetenzorientierung heißt auch sehr stark, Wissen anwenden, ist nicht wissensfrei.
König: Herr Professor Klein, Sie haben seit 2001 den Lehrstuhl für Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main inne, und Sie haben sich in vielen Zeitungsartikeln immer wieder dagegen ausgesprochen, und natürlich auch nicht nur in diesen Artikeln, immer wieder dagegen ausgesprochen, diese Kernkompetenzen so wichtig zu nehmen. Ich habe ein Zitat von Ihnen gefunden, ich vermute, es war ironisch gemeint: "Es geht nicht mehr darum, in einer Prüfung zu wissen, wie zum Beispiel eine Zelle aufgebaut ist, sondern zu zeigen, dass man sich dieses Wissen aus einem Text heraus aneignen kann." Warum dieser Widerstand bei Ihnen?
"Neuntklässler können eine Leistungskurs-Abiturarbeit ohne Fachwissen lösen"
Hans-Peter Klein: Ja, man muss natürlich die ursprünglich gut gemeinte Definition der Kompetenz – wer würde dem widersprechen wollen, dass es darum geht, Schüler oder auch Studenten kompetent auszubilden –, diesen theoretischen Anspruch und den praktischen Anspruch beziehungsweise die praktische Realität miteinander vergleichen. Und an dem Beispiel, das Sie ja eben vorgestellt haben, können Sie sehen, wenn Sie in die derzeitigen Abiturprüfungen schauen, dass es dort zum Beispiel in Biologie, aber nicht nur in Biologie, teilweise auch in Mathematik, ausreicht, wenn man Lesekompetenz hat.
Das heißt, der Schüler bekommt grundsätzlich Texte, die teilweise drei, vier, fünf Seiten lang sind, und auf denen wird er dann auf eine Art Ostereiersuche geschickt, das heißt, er soll gelbe Ostereier und rote Ostereier aus den ganzen Ostereiern rausfinden. Und dazu braucht man teilweise, das haben wir ja nun eindeutig nachgewiesen, wenn man sich diese Abiturarbeiten in vielen Bundesländern anschaut, eigentlich gar kein Fachwissen. Weil wir haben ja damals, 2010, die Untersuchung gemacht, dass Neuntklässler eine Leistungskurs-Abiturarbeit ohne jegliches Fachwissen komplett lösen können, weil sie lesen können. Sie können den vorgegebenen Texten die Inhalte entnehmen, und das reicht aus, um heutzutage eine Abiturprüfung durchaus auch mit guten Noten zu bestehen.
König: Das heißt, Sie sagen, gerade die Kompetenzorientierung, die eingeführte, die man den Schulen und Universitäten verordnet hat, wir reden über die Schulen, gerade sie hat dazu geführt, dass die Abiturnoten so viel besser geworden sind auf der einen Seite, aber der Unterricht immer schlechter.
Klein: Der Unterricht, das ist natürlich eine Frage. Und die Lehrer sind ja auch reformresistent teilweise und können durchaus einen fachlich anspruchsvollen Unterricht weiter durchführen. Aber die Prüfungen, die ausgeschrieben werden, sind natürlich entsprechend anders formuliert. Und Ihre ursprüngliche Frage zeigt ja das ganze Dilemma auf: Kompetenzen oder Fachwissen. In dem Konzept, das Herr Köller ja mit entwickelt hat, ist es ja so, dass gerade fachgebundene Kompetenzen die Hauptrolle spielen sollen, und nicht diese allgemeinen Schlüsselkompetenzen. Alle Kompetenzen, das, glaube ich, wird jeder einsehen, müssen auch ein gewisses Fachwissen als Grundlage haben, sonst ist es eher eine Inkompetenz.
"Wir haben politischen Druck"
König: Meine soziale Kompetenz reicht so weit, Herr Köller, zu bemerken, dass Sie eben heftig eingeatmet haben, sprich Sie wollen jetzt etwas sagen.
Köller: Ja. Also wir haben, glaube ich, einen permanenten Dissens dahingehend, woher das kommt, dass sich Abiturprüfungen verändert haben. Meines Erachtens hat das überhaupt nichts mit Kompetenzorientierung zu tun, sondern es trägt dem Rechnung, dass wir dramatische Veränderungen in den letzten zehn, fünfzehn Jahren am Gymnasium gehabt haben. Wir haben in vielen Bundesländern die Einführung der Zentralabiturprüfungen bekommen, wir haben die Umstellung von G9 auf G8 beziehungsweise G7, G6 in Berlin und Brandenburg bekommen. Wir haben steigende Abiturientenzahlen.
Das heißt, wir haben politischen Druck, möglichst viele – wir haben die OECD-Politik, möglichst viele zum Abitur zu bringen – also wir haben starken Druck, immer mehr Abiturienten zu produzieren, und um das hinzubekommen, ohne dass Politiker darüber stolpern, dass die Hälfte der Abiturienten durch die Prüfung fällt, muss man Prüfungen leichter machen. Das heißt, es ist völlig entkoppelt von der Kompetenzorientierung, die wir in der Bundesrepublik Deutschland seit zehn, fünfzehn Jahren haben. Es ist einfach die Veränderung des Gymnasiums und der große Druck, möglichst viele zum Abitur zu bringen. Also meines Erachtens hat das mit der Kompetenzorientierung im engeren Sinne überhaupt nichts zu tun. Da streiten wir uns immer drüber.
"Man hat Fachwissen von der Kompetenz getrennt"
König: Ich wollte gerade sagen – gar nichts zu tun, Herr Klein? Sehen Sie das auch so?
Klein: Nein, das sehe ich nicht so. Schauen Sie sich PISA-Aufgaben an. Die haben ja den Anspruch, kompetenzorientierte Formate zu haben. Auch dort werden Abschnitte vorgegeben, aus denen der Schüler in Texten und Grafiken Informationen entnehmen kann. Es geht um Informationsentnahme aus Texten. Und genau so ist das Abitur aufgebaut. Das heißt, natürlich kann man sagen, die ursprünglich gut angedachte Kompetenzorientierung ist dazu missbraucht worden, das Fachwissen von der Kompetenz zu trennen, was niemals auch im Anspruch der empirischen Bildungsforschung eigentlich war, aber genau das hat man ja gemacht. Man hat die fachwissenschaftlichen Grundlagen, die eigentlich für eine Kompetenz dringend notwendig sind, praktisch getrennt. Und heutzutage können Sie, wie schon gesagt, viele Abiturarbeiten in den meisten Fächern schaffen, ohne überhaupt an einem Sekundarstufen-II-Unterricht teilgenommen zu haben – wenn Sie lesen können.
Köller: Wobei es immer noch sich sehr stark auch nach Bundesländern unterscheidet, das muss man auch sagen. Wir haben nach wie vor Bundesländer, deren Abiturprüfungen sehr inhaltslastig auch sind, sehr viel Fachwissen erfordern. Das sind – Herr Klein nimmt sich auch gerne Aufgaben raus aus Abiturprüfungen und nimmt die als pars pro toto, als wenn die Abiturprüfungen generell so aussähen. Wir wissen natürlich auch, dass wir anspruchsvolle Abituraufgaben haben, die schon auch Fachwissen erfordern. Das variiert sicherlich zwischen Bundesländern.
Unterschiedliches Niveau in einzelnen Bundesländern
Klein: Ja, das ist sicherlich richtig. Aber interessanterweise verwenden insbesondere einige der neuen Bundesländer noch Aufgabenformate wie in Mecklenburg-Vorpommern – wir haben uns die ja angeschaut –, die tatsächlich hauptsächlich fachwissenschaftliche Dinge abfragen. Wo auch Kompetenzen abgefragt werden. Ich behaupte mittlerweile – wir sind nämlich derzeit an einer solchen Untersuchung dran, dass Abiturarbeiten aus Mecklenburg-Vorpommern, ich sag mal, in Hamburg, Berlin und Nordrhein-Westfalen von den Schülern kaum noch lösbar sind, weil dort andere Aufgabenformate verwendet werden, in denen eben kaum Fachwissen vorkommt. Und dass umgekehrt die Schüler in Mecklenburg-Vorpommern die Aufgabenstellungen natürlich aus Hamburg oder aus Nordrhein-Westfalen durchaus können, wenn man ihnen dann sagt, dass alle Informationen in den Texten bereits enthalten sind. Das muss man ihnen sagen, sonst glauben sie es nicht.
König: Herr Köller, Sie gucken schon wieder so kampfeslustig!
Köller: Also, für mich ist eine Frage das Niveau der Abiturarbeiten. Aber was mich eigentlich viel mehr interessiert, ist, wie sieht Unterricht aus? Wie sieht Unterricht aus in der Sekundarstufe I, also in den Klassenstufen sieben bis zehn hier in Berlin, und dann in der gymnasialen Oberstufe. Und was, jenseits der Abiturprüfungen, nehmen die jungen Leute eigentlich mit ins Leben. Und dafür ist die exemplarische Aufarbeitung von Abituraufgaben meines Erachtens nicht zentral, sondern was wir eigentlich mal wissen müssten, mit guten Tests, die sowohl Inhalte erfragen als auch Kompetenzen, wo stehen eigentlich heute unsere Schülerinnen und Schüler, wenn sie das Abitur machen.
"Wir brauchen länderübergreifende Studien"
Wir wissen das, wo sie stehen, wenn sie einen Mittleren Schulabschluss machen, aber wir wissen zu wenig über die Leistungen der Abiturienten. Und hier, um auch diesen Disput zwischen Herrn Klein und mir aufzulösen, wäre es sicherlich hilfreich, gute Studien zu haben, die länderübergreifend einmal zeigen, was wird wirklich an Inhalten noch in der Oberstufe gelernt, was wird an Kompetenzen erworben, und ist es so, dass der Untergang des Abendlandes droht, weil eben die Kompetenzorientierung in die Schulen gekommen ist.
König: Das klingt schon so fast nach einem Schlusswort. Unsere zehn Minuten sind auch fast zu Ende. Abschließende Bemerkung, wir bewegen uns doch mit alldem ohnehin in einem europäischen Qualifikationsrahmen von, wie es heißt, harmonisierten Bildungsabschlüssen, sprich, das Ganze ist ein Feld, das ohnehin nicht mehr groß zu verändern sein wird?
Klein: Da bin ich aber sehr skeptisch. Die OECD kann zwar Vorgaben machen, aber jedes Land ist völlig unabhängig in seinen bildungspolitischen Entscheidungen. Und warum wir hier in Deutschland gerade das anglo-amerikanische System auch mit Bologna übernommen haben, wäre im Nachhinein eigentlich auch nicht notwendig gewesen. Und diese ganzen Änderungen, die seit PISA und Bologna gekommen sind, sind natürlich über die OECD, über die Bertelsmann-Stiftung und im Rahmen der Ökonomisierung der Bildung eingeführt worden. Man sieht aber jetzt schon auch an der Presse, die diese Darstellungen der Politik, alles sei viel besser geworden, auch nicht mehr glaubt.
König: Jetzt, merke ich, habe ich eine andere Debatte angestoßen. Für die haben wir aber jetzt leider keine Zeit mehr. Vielen Dank, meine Herren. Soll man Schülern vor allem Wissen vermitteln oder Kompetenzen? Ein "Streitgespräch" mit Professor Olaf Köller vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Mathematik und der Naturwissenschaften an der Christian-Albrecht-Uni in Kiel, und Professor Hans-Peter Klein, Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe-Uni in Frankfurt. Dank an Sie!
Köller: Danke!
Klein: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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