Bildungspolitik

"Schulentwicklung braucht Zeit"

Nordrhein-Westfalens Bildungsministerin Sylvia Löhrmann (Grüne, M) lässt sich von Realschüler Joshua (r) die Chromatografie erklären, die ehemaligen Schülerinnen Nihal Akkaya (l) und Neval Koca (r) schauen zu.
Nordrhein-Westfalens Bildungsministerin Sylvia Löhrmann (Grüne, M) lässt sich von Realschüler Joshua (r) die Chromatografie erklären. © picture alliance / dpa
Moderation: Nana Brink · 28.04.2014
Nach Einschätzung der Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Sylvia Löhrmann (Grüne), braucht es mehr Ruhe und Zeit, um die Schullandschaft in Deutschland neu zu entwickeln. Mit Blick auf die aktuelle Debatte über die Abitur-Zeiten sagte sie, die Politik sollte davon wegkommen, nach jeder Wahl etwas Neues machen zu wollen.
Nana Brink: 7 Uhr 48, und in vielen deutschen Schulen müsste man jetzt genau das hören.
Ja, Sie erinnern sich noch, um acht Uhr kehrt wieder der Schulalltag ein nach den Osterferien, und es beginnt sozusagen auch der Endspurt für das laufende Schuljahr, und die Überlegungen, die sich jetzt viele Eltern schon stellen, auf welche weiterführende Schule soll mein Kind denn eigentlich mal gehen? Keine leichte Entscheidung, egal in welchem Bundesland sie wohnen, denn die Zahl der unterschiedlichen Schulformen nimmt stetig zu. Und das, obwohl es immer weniger Schüler gibt. Einen regelrechten Boom gibt es bei Privatschulen, aber auch bei Gesamt- oder Gemeinschaftsschulen. Sylvia Löhrmann ist grüne Schulministerin in Nordrhein-Westfalen und aktuell Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Schönen guten Morgen, Frau Löhrmann!
Sylvia Löhrmann: Guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Die Schullandschaft verändert sich dauernd. Wie sehr werden Eltern dadurch verunsichert? Bekommen sie genug Orientierung?
Löhrmann: Das hängt davon ab, wie das jeweils angelegt ist und wie es organisiert ist. Wir müssen ja auch feststellen, dass viele Eltern die klassischen Schulformen, also die Hauptschule auch nicht mehr angewählt haben, obwohl die Schule gute Arbeit geleistet hat. Und deswegen muss Politik auf diese veränderten Rahmenbedingungen reagieren. Der demografische Wandel ist das eine, aber eben auch das veränderte Schulwahlverhalten der Eltern. Und je nachdem, wie in einem Bundesland die Eltern mitgenommen werden, gibt es Akzeptanz und manchmal auch weniger Akzeptanz. Da kann man keine Generallinie für ganz Deutschland ausgeben.
Brink: Wir ist das bei Ihnen in Nordrhein-Westfalen?
"Schulfrieden" in NRW wird angenommen
Löhrmann: Wir haben es in Nordrhein-Westfalen ja wirklich geschafft, und das hatte ich mir auch vorgenommen, einen Schulkonsens, manche sagen, einen Schulfrieden zu erzielen, indem ich alle wesentlichen Akteure 2010 eingeladen habe. Und wir haben dann einen zivilgesellschaftlichen Konsens vorbereitet mit über 150 Beteiligten, und das ist dann auch Grundlage geworden für die Schulentwicklung, für eine Gesetzesnovelle mit der CDU. Und seitdem entwickelt sich unsere Schullandschaft weiter, und sie entwickelt sich aber nicht von oben vorgegeben weiter, sondern so, wie die Menschen vor Ort mit den Parlamentsbeschlüssen der kommunalen Gebietskörperschaften das wollen. Und die Eltern nehmen die neuen Möglichkeiten an, das kann man schon sehr zufrieden feststellen, weil die Gelegenheiten genutzt worden sind.
Brink: Gehen wir doch mal ein bisschen ins Detail. In Nordrhein-Westfalen werden im kommenden Schuljahr 50 neue Gesamtschulen an den Start gehen, Schulen, in denen die Schüler über die vierte Klasse hinaus gemeinsam lernen. Das bedeutet, dass viele Haupt- und Realschulen überflüssig werden. Ist das wirklich der richtige Weg?
Löhrmann: Diese Schulen laufen dann aus. Die Schüler haben natürlich Vertrauensschutz und können ihre Bildungslaufbahn zu Ende bringen. Aber wir haben doch in Nordrhein-Westfalen folgende Situation gehabt: Die Kommunen wissen, dass Schule Standortfaktor ist, für Eltern und für Unternehmen. Und kleinere Gemeinden, die wir auch zuhauf haben in unserem großen Land, die können gar nicht mehr das klassische dreigliedrige Schulsystem vorhalten, und die wussten, wenn wir nichts tun, verlieren wir die letzte weiterführende Schule am Ort.
Brink: Weil es weniger Schüler gibt, oder warum?
Die Eltern wollen Schicksalsentscheidung nach Klasse vier nicht
Löhrmann: Weil es weniger Schüler gibt, natürlich, und weil die Eltern eine Schule wollen, die den Bildungsweg für ihre Kinder länger offen hält. Die Eltern wollen diese Schicksalsentscheidung nach der Klasse vier nicht. Deswegen haben die Schulformen, die auch zum Abitur führen potenziell, haben die einfach einen größeren Zulauf, das zeigt sich ja in anderen Bundesländern auch. Es wird ja nichts vorgegeben von oben. Wir schaffen ja nicht zwangsweise etwas ab, sondern die Eltern und der Bedarf, die entscheiden letztlich, welche Schulen vor Ort da sind und welche Schulen angenommen werden.
Brink: Woher wissen Sie das so genau?
Löhrmann: Ja, weil eine Schule nur zustande kommt, wenn sich hinreichend Eltern dafür entscheiden. Für eine Gesamtschule sind das immerhin hundert Eltern, die sich mindestens für eine solche Schule entscheiden müssen. Wir hatten ja lange Jahre eine Situation, dass Hunderte von Eltern ihren Elternwunsch nicht erfüllt bekommen haben. Von freier Schulwahl konnte da gar nicht die Rede sein. Und die Sekundarschulen, die müssen auch dreizügig sein. Das heißt, selbst wenn ein Stadtrat entscheidet und es nicht 75 Eltern mindestens gibt, die ihre Kinder anmelden, dann kommt die Schule nicht zustande. Das sind ganz klare Regelungen, aber in den meisten Fällen kommen sie zustande, und sie etablieren sich, und es gibt eine ungeheure Aufbruchsstimmung innerhalb der Art, wie die Kollegien dann die Schulen gestalten können.
Brink: Aber mittlerweile wissen wir ja auch, zum Beispiel durch eine aktuelle Studie, dass das dreigliedrige Schulsystem viel durchlässiger war als man immer angenommen hat. Hat man sich nicht vielerorten zu früh davon verabschiedet?
Löhrmann: Das ist ja eine akademische Frage. Wir wissen durch Elternbefragungen, dass Eltern sagen: Wie kann ich im Alter von neun Jahren wissen, ob nun mein Kind das Abi schafft, ob es einen mittleren Bildungsabschluss schafft. Und deswegen wollen die Eltern die Option.
Brink: Entschuldigung, wenn ich Sie da unterbreche, aber diese Studie sagt ja genau, dass ist immer noch möglich, das heißt, das System ist weitaus durchlässiger, als man eigentlich denkt normalerweise, das heißt, man kann immer noch Abitur machen, auch wenn man sich bei neun – nicht mit neun Jahren entscheidet.
Mehr Optionen für Eltern und Kinder
Löhrmann: Das ist ja auch gut, dass es durchlässig ist. Trotzdem wissen wir aus Studien andererseits, dass Jugendliche das Abitur schaffen durch den Besuch einer integrierten Schulform, die nach der Klasse vier nicht die Empfehlung zum Gymnasium hatten. Ich meine, das zeigt ja, dass das keine ganz mit Aussicht getroffene Entscheidung ist nach der Klasse vier, die Empfehlung, so gut sie auch gemacht ist von den Eltern, so gut vielleicht auch die Noten sind im Übergangsprozess, und die Eltern eben sagen, ich will das nicht so früh entscheiden, ich will, dass mein Kind längere Optionen hat. Und in den Sekundarschulen und Gesamtschulen sind eben auch gymnasiale Standards verankert. Und das ist natürlich wichtig, damit der Übergang nach der Klasse zehn dann auch erfolgreich in der Oberstufe fortgesetzt werden kann.
Brink: Bleiben wir dann noch mal beim Gymnasium. Da herrscht ja auch bei Ihnen etwas Verwirrung im Lande. Sie haben ja eigentlich das G8-Modell, aber jetzt einem Dutzend Gymnasien gestattet, zum Abitur nach neun Jahren zurückzukehren. Warum das?
Löhrmann: Wir haben, SPD und Grüne, 2010 gesagt gehabt, wir waren nicht zufrieden mit der Einführung, wie Schwarz-Gelb das gemacht hatte, sehr überhastet, sehr überstürzt, ohne Vorbereitung. Und es gab große Unruhe, und danach haben wir allen angeboten, wollt ihr zurück, ja oder nein, und es haben sich von den 630 Gymnasien nur 13 entschieden, zurück, weil der Wunsch da war, jetzt bitte nicht wieder eine neue Struktursache, wir wollen an der Optimierung arbeiten. Durch die Entscheidungen in Niedersachsen, aber auch die Diskussion in Bayern gibt es jetzt wieder erneut Elterninitiativen, wir möchten jetzt noch mal eine Veränderung, und deswegen habe ich zu einem runden Tisch eingeladen, weil ich nicht richtig finde, wenn Unruhe da ist, dann muss man das aufgreifen, dann muss das vernünftig erneut erörtert werden, ist das für uns jetzt in Nordrhein-Westfalen der richtige Weg?
Brink: Müssen sich Eltern also darauf einstellen, dass sich Schulformen immer ändern werden, auch in dieser Geschwindigkeit?
Schulentwicklung braucht Zeit
Löhrmann: Ich persönlich glaube, es ist viel dran, dass unterschätzt worden ist, dass Schulentwicklung Zeit braucht. Dass man eben möglichst wegkommen sollte davon, nach jeder Wahl muss unbedingt ganz schnell was Neues passieren. Man muss die Unzufriedenheiten aufgreifen, man muss daran arbeiten, aber man sollte natürlich nicht hin und her. Weil Schulentwicklung Zeit und Unterstützung und Verlässlichkeit braucht. Aber jede Entscheidung in einem anderen Bundesland führt natürlich auch immer wieder zu erneuten Diskussionen, wenn Sachen noch nicht so laufen, wie sie gewollt und wie sie gedacht waren, und deswegen ist Schulentwicklung auch ein ständiger Prozess.
Brink: Sylvia Löhrmann, grüne Schulministerin in Nordrhein-Westfalen. Schönen Dank, Frau Löhrmann, für das Gespräch!
Löhrmann: Gerne!
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