Deutsche Schulen

Immer dümmer, immer ungebildeter?

Unterricht an der Heinz-Brandt-Sekundarschule in Berlin-Weißensee.
Wie entwickelt sich das Niveau deutscher Schüler? Unterricht an der Heinz-Brandt-Sekundarschule in Berlin-Weißensee. © picture alliance / dpa / Stephanie Pilick
Moderation: Marietta Schwarz · 09.05.2014
Nach einer Reform der Sekundarschule in Berlin diskutieren Lehrer über einen Niveauverlust an Schulen. Bildungsforscher Klaus Klemm sieht die Debatte gelassen: Schon seit 200 Jahren gebe es reflexartig die gleichen Klagen und Ängste.
Marietta Schwarz: Derzeit schwitzen viele Schülerinnen und Schüler der 10. Klassen über ihren Prüfungen für den MSA, den mittleren Schulabschluss. Besonders in Berlin werden diese Prüfungen diesmal mit großer Spannung beobachtet, denn es handelt sich um den ersten Sekundarschuljahrgang.
Viele Eltern haben ihre Kinder auf die Sekundarschule getan, weil sie dort auch noch die Chance haben, das Abitur nach neun Jahren zu machen. Doch die Ansprüche an die neuen Abschlüsse würden gesenkt, heißt es, und mal wieder geht die große Angst vor dem Niveauverlust um bei den Schulleitern, den Eltern und den Ausbildungsstätten. Der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm ist am Telefon, guten Morgen!
Klaus Klemm: Guten Morgen!
Schwarz: Herr Klemm, ist diese Angst vor dem Niveauverlust berechtigt?
Klemm: Ich kann jetzt die konkrete Berliner Situation nicht überblicken, das stand gestern in der Zeitung, das wäre jetzt vermessen, wenn ich eine Ferndiagnose machen würde. Was ich aber gegen diese generellen Klagen, die ja nicht auf Berlin beschränkt sind, gegenüber diesen Klagen sagen kann: Wir haben im Jahr 2000 eine große internationale Studie, die berühmte PISA-Studie gehabt, und damals waren die deutschen Schüler international unterhalb des Durchschnitts der OECD-Länder, in Mathematik, in Deutsch, in Naturwissenschaften.
Wir haben diese gleiche Studie vor zwei Jahren gehabt, 2012, zwischendurch auch, und im Jahr 2012 waren die 15-jährigen Schüler, also etwa die, die jetzt die mittleren Abschlüsse machen von der Altersgruppe und Jahrgangsstufe her, diese Schüler waren auf einmal – nicht auf einmal, nach 12 Jahren –, waren die im internationalen Vergleich besser als die durchschnittlichen Schüler der OECD, der Industrieländer. Wir liegen jetzt in Deutschland im oberen Drittel. Also, was wir für die letzten zwölf Jahre für die Fächer Mathematik, Naturwissenschaften und Deutsch sagen können: Die 15-Jährigen sind besser geworden und die 15-jährigen Leistungsschwachen, die haben sich in dieser Gruppe noch mal besonders verbessert.
"Seither wird es immer schlechter"
Schwarz: Sind sie gut genug?
Klemm: Ob das gut genug ist, weiß ich nicht, aber es ist auf jeden Fall ein relativ harter Beleg gegen die generelle These, es geht immer mehr den Bach runter. Und das ist jetzt zwei Jahre her, 2012. Also, dass jetzt von 2012 bis 2013 der große Einbruch erfolgt sein sollte, oder bis 2014, ist ja eher unwahrscheinlich.
Wir beobachten seit 200 Jahren in Deutschland immer wieder die Klage der Universitäten und die Klage der Ausbildungsbetriebe, dass die jungen Leute immer schlechter, immer dümmer, immer ungebildeter würden. Ich darf mal ein Zitat sagen aus dem Jahre 1788, da hieß es: 'Es ist bisher vielfältig bemerkt, dass so viele zum Studieren bestimmte Jünglinge ohne gründliche Vorbereitung, unreif und unwissend zur Universität eilen!' – Das war der Begründungstext, mit dem 1788 in Preußen das Abitur eingeführt wurde. Seither wird es immer schlechter.
Schwarz: Herr Klemm, schauen wir dann doch noch mal in das Jahr 2014: Momentan richtet sich der Vorwurf ja dagegen, dass die Abschlüsse leichter zu erreichen sind, nicht nur in Berlin, sondern eben auch anderen Bundesländern, wo diese Sekundarschule eingeführt wurde, und zwar mit schlechteren Noten. Da ist natürlich dann die Frage, stehen Noten und Niveau überhaupt in einem Zusammenhang? Irgendwie ja schon!
Klemm: Aber eben auch nur irgendwie! Ich weiß zum Beispiel eine Studie aus Bayern, die ist gar nicht so alt, die zeigt, dass für die gleichen Testleistungen in bayrischen Gymnasien Noten auf der Skala von zwei bis vier gegeben werden, für die gleichen Testleistungen. Und das ist einem Land mit zentralen Prüfungen! Also, ob Noten dafür stehen, ist sehr fraglich.
Wir haben im letzten Jahr eine Publikation gehabt, die die mittleren Abschlüsse und die Hauptschulabschlüsse bundesweit mit Testleistungen verglichen, dort wurde deutlich, dass in Sachsen zum Beispiel viel, viel mehr Schüler keinen Hauptschulabschluss erreichen, dass die, die dort keinen Abschluss erreichen, leistungsmäßig aber zum Teil deutlich besser sind als die Schüler in anderen westlichen Bundesländern, die einen Hauptschulabschluss bekommen.
Also, was da gemessen wird, ist von Land zu Land so unterschiedlich, sodass ich da ein großes Misstrauen habe. Es kann schon sein, dass es schlechter wird, aber dieser pauschale Verdacht, der nicht über wirklich vorgezeichnete Leistungen hinterlegt wird, der ist mir hoch suspekt!
"Die Berliner Richtung sehr genau angucken"
Schwarz: Reden wir also dann nicht über die Leistungen, sondern noch mal über die Noten! Wenn ich mit einer schlechteren Note meinen Abschluss bekomme, bleibt das denn dann ohne Konsequenzen? Wohl kaum!
Klemm: Wenn ich mit einer schlechteren Note einen Abschluss bekomme, ist das zunächst mal problematisch. Ich weiß aber jetzt nicht genau, worüber wir reden. Es gibt zum Beispiel in allen Ländern die Möglichkeit, dass ich schlechte Noten in einem Fach kompensieren, ausgleichen kann durch gute Noten im anderen Fach.
Wenn ich in, was weiß ich, in Englisch und Mathematik eine gute Note habe, kann ich die – ich meine jetzt wirklich eine Zwei oder besser –, kann ich die möglicherweise zu Recht damit kompensieren, dass ich in einem anderen Fach, meinetwegen in Deutsch, schlechter oder vielleicht sehr schlecht bin. Also, die Frage, wie balanciere ich das ganze Fächerspektrum aus, und wann sage ich noch, das reicht oder das reicht nicht, das ist eine schwierige Frage und da müsste man sich die Berliner Richtung dann sehr genau angucken, ob das wirklich eine Verschlechterung ist. Ich will das nicht ausschließen.
Schwarz: Das kann ja nicht aus der Luft gegriffen sein, dass die Lehrer jetzt sagen, früher brauchte man eine Drei und heute brauchte man nur eine Vier, das muss ja irgendwo festgeschrieben sein.
Klemm: Wenn hinter der Note, die man jetzt nur noch braucht, eine schlechtere Leistung steht, und wenn das nicht durch Verschärfung oder durch härtere Rechnung an anderer Stelle kompensiert wird, dann würde ich das zunächst einmal auch problematisch finden. Aber dazu, wie gesagt, müsste ich die Situation in Berlin genauer kennen. Mich irritiert an alledem: Wir haben ja diese gleiche Diskussion im Augenblick in der Frage, wie sind die Anforderungen im G8- gegenüber dem G-9-Gymnasium. Da sagen auch manche Philologen, manche Gymnasiallehrer sagen, es wird schlechter; wir hatten hier in NRW am vergangenen Montag einen großen runden Tisch, da haben die Lehrerverbände gesagt, die Leistungen sind nicht gesunken. Also, da ist sehr viel Meinung, sehr viel Urteil im Spiel, was selten wirklich hart hinterlegt wird.
Ein erfolgreiches Konzept?
Schwarz: Herr Klemm, die Sekundarschulen, die wurden und werden ja auch deshalb eingeführt, um noch mehr Schülern zu einem Abschluss zu verhelfen. Würden Sie sagen, das ist ein erfolgreiches Konzept bislang?
Klemm: Es gibt von Jürgen Baumert, dem ersten Autor der PISA-Studien, gibt es eine Studie, die das Konzept (...) konkret auf die Sekundarschule in Berlin bezieht und die (...) Diese Studie belegt zu dem Zeitpunkt, zu dem sie gemacht worden ist, sie ist voriges Jahr publiziert worden, dass das Konzept ein erfolgreiches ist. Aber diese Studie konnte noch nicht bis zum Abschluss gehen an dieser Schule, weil der jetzt, ich glaube, das erste Mal vergeben wird.
Da muss man hingucken. Im Prinzip ist das Herausholen – was ja in Berlin passiert ist –, das Herausholen der klein gewordenen Gruppe der Hauptschüler aus einem Lernniveau, in dem nur noch Schwache miteinander lernen, in eine Gruppe, in der eine größere Leistungsbreite vorhanden ist, nämlich die Gesamtschüler, die Realschüler, die Hauptschüler, die jetzt gemeinsam lernen, das ist zunächst mal eine günstige Voraussetzung, dass die Schwachen zu besseren Lernergebnissen kommen. Ob das passiert, muss man jetzt sehen.
Schwarz: Der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm war das. Herr Klemm, danke für das Gespräch!
Klemm: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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