Natascha Wodin: "Nastjas Tränen"

Von der Ingenieurin zur Putzhilfe

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Buchcover: "Nastjas Tränen" von Natascha Wodin
Der neue Roman von Natascha Wodin lässt sich als Parallelerzählung zu ihrem Buch "Sie kam aus Mariopol" verstehen. © Deutschlandradio / Rowohlt Verlag
Von Ursula März · 31.08.2021
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Nastja ist die ukrainische Putzfrau der Ich-Erzählerin in Natascha Wodins neuem Roman. Die beiden Frauen kommen sich näher. Doch letztlich enttäuschen sie sich gegenseitig. Eine stofflich bedeutsame Geschichte - mit einem Konstruktionsfehler.
Familiäre Spurensuchen gibt es in der Gegenwartsliteratur zuhauf. Natascha Wodins Roman "Sie kam aus Mariupol", der sie 2017 einem größeren Publikum bekannt machte, ragt aus der Menge auch deshalb heraus, weil er ein überschattetes Kapitel der NS-Zeit beleuchtet: das Leiden sowjetischer Zwangsarbeiter, die von den Nazis nach Deutschland verschleppt wurden. Wodins ukrainische Mutter war eine von ihnen. Eine Mutter, von der die 1945 geborene und in Lagern für "Displaced Persons" in Franken aufgewachsene Autorin fast nichts wusste. Die Mutter beging Suizid, als Natascha Wodin noch ein Kind war.
Wodins neuer Roman "Nastjas Tränen" lässt sich als Parallelerzählung zum Buch über ihre Mutter verstehen. Drei Jahre nach der Wende ist die mit der Autorin weitgehend identische Erzählerin aus einem pfälzischen Dorf nach Berlin gezogen, per Annonce sucht sie eine Putzhilfe. Die Bewerberin, für die sie sich entscheidet, ist die 50-jährige Ukrainerin Nastja. Unwillkürlich ruft diese das Bild der Mutter wach.

Scheinehe mit einem Deutschen

Putzfrau und Arbeitgeberin kommen sich nahe, ein Bindeglied ist die russische Sprache und der osteuropäische Bezug ihrer Biografien. Nastja, die sich nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums als illegale Arbeitsimmigrantin in Berliner Haushalten verdingt, war in der Ukraine leitende Ingenieurin. Ihre Ehe mit einem Ukrainer ist zerbrochen, ihre Tochter in Holland verschwunden, regelmäßig schickt sie Geld für ihren Enkel in die Ukraine.
In Berlin geht sie eine fatale Scheinehe mit einem Deutschen ein, der überraschend verstirbt. Für die verwitwete Nastja erweist sich das als eine Art Glück im Unglück. Sie genießt legales Aufenthaltsrecht in Deutschland.
Nastjas Geschichte ist exemplarisch. Sie ist eine jener Osteuropäerinnen, die als Pflegerinnen, Babysitter oder Haushaltshilfen das Familienleben westlicher Gesellschaften stützen und nie wirklich Fuß fassen. Wie in "Sie kam aus Mariupol" greift Natascha Wodin hier ein von der Literatur eher vernachlässigtes Thema auf, was man ihrem neuen Roman unbedingt zugutehalten muss.

Eine Reihe von gegenseitigen Enttäuschungen

Ein Problem ergibt sich aber aus seiner Konstruktion. Mehr als die erste Hälfte ist eine ausführliche Nacherzählung von Nastjas Vita, bei der die Erzählerin eine beinahe allwissende Position einnimmt, ohne zu klären, woher sie ihr Erzählwissen nimmt. Was Nastja ihr berichtet hat und was möglicherweise ihrer Fantasie entspringt. Erst im zweiten Teil involviert sie sich in den Roman, denn Nastja zieht bei ihr ein. Das Zusammenwohnen führt jedoch zu gegenseitiger Enttäuschung.
Nastja lehnt die Ratschläge, Freundschaftsangebote, ja selbst die Speisen ihrer Vermieterin ab. Sie fühlt sich von ihr bevormundet. Dieser Konflikt aber, der sich auf der narrativen Ebene des Romans abspielt, spiegelt sich in seiner Konstruktion. Der Zugriff der Erzählerin auf Nastjas Lebensgeschichte im ersten Teil hat tendenziell etwas Vereinnahmendes. Dieser Erzählgestus ist der literarisch blinde Fleck von "Nastjas Tränen". Um ein historisch und stofflich bedeutsames Buch handelt es sich gleichwohl.

Natascha Wodin: "Nastjas Tränen"
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021
188 Seiten, 22 Euro

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