Natascha Wodin: "Sie kam aus Mariupol"

Wie sich der Verlust von Heimat anfühlt

Eine Gruppe Displaced Persons, die in einem Lager in Wiesbaden untergebracht waren, vor ihrer Abreise in ihre Heimat, aufgenommen 1945.
Eine Gruppe Displaced Persons, die in einem Lager in Wiesbaden untergebracht waren, vor ihrer Abreise in ihre Heimat, aufgenommen 1945. © picture-alliance / dpa / Dena US Signal Corps Photo
Von Jörg Magenau · 09.03.2017
Wie fühlt es sich an, als Mensch bloß geduldet zu sein? Wie lebt eine "Displaced Person"? Die Autorin Natascha Wodin erzählt in einem autobiografischen Werk von einem Leben in dem fremdenfeindlichen, naziverseuchten, schuldvergessenen Deutschland der Nachkriegszeit.
Zunächst hatte Natascha Wodin nicht viel mehr als den Namen ihrer Mutter, den sie in eine Suchmaschine im Internet eingab. Sie wusste nur, dass die Mutter 1920 im ukrainischen Mariupol geboren wurde und 1944 als Zwangsarbeiterin nach Deutschland kam. Doch über ihre Herkunft sprach sie nie, drohte aber immer wieder damit "ins Wasser zu gehen", was sie 1956 dann auch tat, als sie sich in der Regnitz bei Forchheim ertränkte.
Mit autobiographischen Erinnerungen an eine Nachkriegskindheit im Lager endet dieses außergewöhnliche, atemraubende Buch. Was Natascha Wodin da zu Protokoll gibt über ein geduldetes Leben als "Displaced Person" in einem fremdenfeindlichen, naziverseuchten, schuldvergessenen Deutschland, das ist schon fürchterlich genug. Aber die Kindheit bekommt ihren wirklichen Schrecken erst vor dem Hintergrund der Familiengeschichte, die Wodin jetzt als 70-Jährige rekonstruiert hat. Da verbringt sie ihre Sommer am Schaalsee in Mecklenburg, und bald hat man den Eindruck, dass nach all dem Grauen hier zum ersten Mal ein Ort des Friedens gefunden wurde, an dem das Erinnern und das Schreiben möglich werden.

Die Herrschaft der Gewalt

Fast arglos beginnt Wodin ihre Recherche im Internet. Bald stößt sie auf einen russischen Hobby-Genealogen, der ihr dabei hilft, auch die abgelegensten Akten aufzuspüren. Ganz allmählich tauchen nicht nur Namen und Schicksale über Generationen hinweg auf, sondern sogar noch lebende Familienangehörige: eine Cousine in Kiew, deren Vater, der Bruder der Mutter, ein berühmter Opernsänger in der Sowjetunion war. Ein Neffe, der beiläufig erzählt, seine Mutter umgebracht zu haben. Und ein Cousin, der auf einem Schrank zufällig die Memoiren Lidias, der Schwester der Mutter, findet. Sie bilden den romanhaften zweiten Teil, den man nur mit Beklemmung lesen kann. Aus nächste Nähe schildern sie die Revolution und den sich anschließenden Bürgerkrieg, die Enteignung und Zerstreuung der reichen Kaufmannsfamilie.
Sie zeigen die Herrschaft von Gewalt, Angst und Elend, und machen auf grauenhafte Weise deutlich, wie sinnlos das sogenannte Proletariat die Güter der besitzenden Klasse raubte, ohne auch nur die leiseste Idee zu haben, was damit anzufangen wäre. Die Folgen sind bekannt: Zerstörte Fabriken und Städte, brachliegende Felder nach der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und eine fürchterliche Hungersnot. Darauf folgte fast nahtlos der stalinistische Terror. Lidia wurde als Studentin in Odessa verhaftet, konterrevolutionärer Umtriebe angeklagt und nach Sibirien verbannt, wo sie als Lehrerin für schwerstkriminelle Jugendliche arbeiten musste. Sie erledigte das mit Bravour, und überhaupt kann man diese kleine, tapfere Frau nur bewundern.

Spurensuche in der Familie

Im dritten, dokumentarischen Teil, rekonstruiert Wodin den Weg ihrer Eltern von Mariupol in die Zwangsarbeit nach Leipzig, wo sie in der Rüstungsindustrie bei Flick eingesetzt wurden. Allmählich wird klar, warum die Eltern so verschlossen und psychisch zerstört waren. Die Gewaltverhältnisse verlängern sich in die Familie hinein; die Geschichte hinterlässt ihre Spuren auch dann, wenn sie verschwiegen und im Inneren begraben wird oder wenn man, wie Natascha Wodin ein Leben lang nichts davon weiß. Wie klein, wie reich so ein Menschenleben ist und wie unrettbar es in die Mühlen der Geschichte gerät, davon erzählt diese zwischen Roman, Recherche, Rekonstruktion und Erinnerung angesiedelte Spurensuche.
Die Sprache ist kunst- und schmucklos, aber genau das ist das einzig Angemessene. Man sieht dem Buch nicht an, wieviel Arbeit darin steckt und wie durchdacht die einzelnen Passagen aufgebaut sind. In der Kommentierung zurückhaltend, spricht der Stoff für sich: klar, scharf und bedrückend. Das ist, gerade in der dokumentarischen Nüchternheit ganz große und äußerst wirkungsvolle Kunst.

Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol
Rowohlt, Reinbek 2017
366 Seiten, 19,95 EUR

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