Natan Sznaider: "Gesellschaften in Israel"

Kritik, Verständnis, Hoffnung

Natan Sznaider "Gesellschaften in Israel"
Natan Sznaider "Gesellschaften in Israel" © Suhrkamp / picture alliance / dpa
Von Rafael Seligmann · 11.11.2017
Wie lässt sich die von Spannungen durchzogene israelische Gesellschaft soziologisch beschreiben? Natan Sznaider tut es, indem er verschiedene Lebenswelten und Milieus im jüdischen Staat analysiert. Dabei erspart er dem Leser nichts.
Ein kluges, informatives und elegantes Buch hat Natan Sznaider über die israelische Gesellschaft geschrieben. Elegant. Das ist wichtig. Denn Soziologen beliebt es, sich derart komplex auszudrücken wie ihr Urvater Georg Simmel, was ihre Bücher für den Normalleser schwer verständlich macht. Zudem sind Bücher über Israel zumeist einseitig.
Das Gros der Schriften aus der Feder von Deutschen, Juden und jüdischen Deutschen krankt am missionarischen Eifer der Autoren. Bis Ende der 60er-Jahre versuchten die Verfasser bußfertig, deutsch-nazistische Schuld abzubauen. Mit kritischer Wissenschaft hatte dies wenig zu tun. Ausgewogene Werke wie Kurt Sontheimers "Israelische Politik" blieben die Ausnahme.

Ein Israel-Porträt zwischen Kritik und Verständnis

Vor einem halben Jahrhundert aber trat eine Zeitenwende ein. Damals brachte das von arabischen Staaten existentiell bedrohte Zion seinen Feinden eine verheerende Niederlage bei. Israels Armee eroberte das arabische Ost-Jerusalem, vereinigte die Stadt und annektierte sie. Auch das Westjordanland, die Golan-Höhen und der Sinai wurden erobert.
Dass Zion sich zur Besatzungsmacht gewandelt hatte, peinigte die zarten philosemitischen Seelen in Deutschland und im ehedem christlichen Abendland. Seit Jesus war man gewöhnt, dass die Juden gefälligst die andere Wange hinzuhalten hatten. Stattdessen gebärdeten sich Mosche Dayan und seine Krieger als Eroberer. Natan Sznaider kennt die Geschichte der Juden im 20. Jahrhundert. Das souveräne Wissen darum lässt ihm nicht den Kamm schwellen und ihn unnachsichtig urteilen. Stattdessen portraitiert der Autor in zehn Bildern die israelische Gesellschaft von ihren Ursprüngen zur Gegenwart kritisch, doch verständnisvoll.

Friedlicher Protest in Israel blieb 2011 unblutig

Sznaider berichtet von den gesellschaftlichen Unruhen des Jahres 2011, als junge Israelis das wachsende soziale Gefälle in ihrem Land nicht mehr aushielten – und ein Zehntel der Bevölkerung dagegen zum friedlichen Protest auf die Straßen mobilisierten. Die Demonstrationen versandeten in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Doch im Unterschied zum Arabischen Frühling wurde in Israel kein Blut vergossen.
Aber auch der jüdische Staat wurde nicht von Mord verschont. Im zweiten Kapitel, der "Opferung Rabins" zeigt Sznaider die Ursachen für den Tabubruch des "Brudermordes". Die extremen religiösen Nationalisten warfen dem Premier, einst ein Kriegsheld, Verrat vor, weil er dabei war, Teile des von Gott an die Juden versprochenen Landes an seine Feinde auszuliefern. Die Verständigungsbereiten und die rationalen Politiker wie Shimon Peres wiederum gaben sich nicht die Mühe, die Ängste und den religiösen Eifer ihrer Gegner zu begreifen.

Die Ermordung Jitzchak Rabins traumatisierte das Land

Der Autor erläutert, dass sich die israelische Gesellschaft nicht von dem Trauma des Mordes erholt hat. Als Beispiel dafür zitiert Natan Sznaider das Gedicht "Nach meinem Tode" des israelischen Nationaldichters Chajim Nachman Bialik aus dem Jahre 1903.
"Nach meinem Tode sollt ihr klagen:
Er war ein Mann – der starb vor seiner Zeit,
Sein Lebenssang war inmitten unterbrochen.
Und Schad und weh – ein Lied noch hatte er.
So starb das Lied für ewig – starb für ewig."
Das mag das Ringen um ein Mindestmaß an kultureller Einigkeit zwischen Religiösen und Agnostikern, orientalischen und europäischen Hebräern, Juden und Arabern, Holocaust-Überlebenden und Diasporajuden sowie weiteren Schismen deutlich machen. Es gäbe noch Dutzende anderer Trennlinien und zusammenwirkender Kräfte. Etwa zwischen den sozialistischen Kibbuzim und der rasant aufstrebenden digitalen Wirtschaft oder anderseits die Rolle der Armee als gesellschaftlicher Schmelztiegel. Doch der Leser, der mehr über Israels Gesellschaft erfahren will, wird durch die Besichtigung der Bilder einer Ausstellung über Zion von Nathan Sznaider gut informiert.

Ein hundertjähriger Krieg prägt das Bewusstsein

Ein Schlüsselabschnitt ist das Kapitel über die Araber in Israel. Wobei der Autor zeigt, dass es selbst hier nicht zu einer klaren Definition reicht. Israelische Araber? Mohammedaner? Christen? Palästinenser? Araber mit israelischem Pass? Was sich wie ein Rätsel für Soziologen liest, entpuppt sich als ein hundertjähriger Krieg zwischen Arabern und Juden.
Nicht nur Krieg, wie das Beispiel eines israelisch-arabischen Fußballnationalspielers zeigt. Doch die Opfer des Krieges schlagen tiefere Kerben ins menschliche Bewusstsein. So das Massaker, das israelische Soldaten vor 60 Jahren im arabischen Dorf Kefar Kassim anrichteten, um eine Ausgangssperre gewaltsam durchzusetzen. Der aus Deutschland stammende Richter Halevi verurteilte die schuldigen Soldaten zu hohen Strafen. Seine Begründung hat universelle Bedeutung:
"Das Kennzeichen offensichtlicher Illegalität ist, dass sie wie eine schwarze Flagge über dem Befehl wehen sollte. Eine Warnung, die besagt: "Verboten." Keine Illegalität, die von Juristen entdeckt wurde, sondern das klare offensichtliche Brechen des Gesetzes, eine Illegalität, die das Auge durchbricht und das Herz aufwühlt, wenn das Herz nicht undurchdringlich und korrupt ist."
Sznaider erspart dem Leser nichts. Doch er tut es ohne Eifer. Sein Verständnis für die Menschen und seine unterhaltsame Art zu schreiben, informieren nicht nur. Sie geben auch ein wenig Zukunftshoffnung.

Natan Sznaider "Gesellschaften in Israel"
Eine Einführung in zehn Bildern
Suhrkamp 2017
318 Seiten, 28 Euro

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